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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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Jademarkierungen eingenommen hatten, zog Hiron meine Bank wieder zurück, verband sie mit den Bänken links und rechts und schloss den Kreis. Sofort verstummte das Beten der Dörfler und es trat eine unheimliche Stille ein. Wie auf ein Zeichen hin wurde die Hitze stickig und die Luft begann zu flimmern. Glühende Hitze und völlige Stille: die Vorboten des Königsmonsuns.
    Mit steifen Beinen ging ich an meinen Platz, drehte mich um und sah mich einem Kreis von Männern gegenüber, die mich in der Erwartung anblickten, sie in den Stunden dieser heiklen und erschöpfenden Arbeit zu führen. Einem nach dem anderen schaute ich in die Augen: Lord Silvo nickte, Garon senkte den Blick und Tyron lächelte mir gezwungen zu. Ich sah Vorsicht, Zorn, Hoffnung, Abneigung, Sorge, Bosheit, Unentschiedenheit und zuletzt den starren Wolfsblick von Lord Ido. Er wartete auf mein Versagen.
    Ich setzte mich und streckte den rubinroten Kompass vor mir aus. Die anderen Drachenaugen taten es mir nach und die zwölf goldenen Scheiben blitzten in der Sonne. Ein tiefes Donnergrollen ließ alle zum Horizont blicken. Eine gewaltige schwarze Wolkenbank, aus der gezackte Blitze zur Erde fuhren, kam in gleichmäßigem Tempo auf uns zu.
    Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und wiederholte im Stillen den traditionellen Aufruf, den Hollin mir beigebracht hatte. Elf über ihre Instrumente gebeugte Männer sahen mich gespannt an und warteten auf meine Worte. Ein weiterer Donnerschlag rollte auf uns zu und ließ die Dörfler vor Angst zusammenzucken.
    »Drachenaugen!«, übertönte ich den verhallenden Donner. »Ruft Eure Drachen, bedient Euch Eurer Kraft und macht Euch bereit, Eure heilige Pflicht für unser herrliches Land und unseren ruhmreichen Kaiser zu tun.«
    Wie aus einem Munde riefen sie: »Für unser Land und unseren Kaiser.«
    Man hatte mir gesagt, jedes Drachenauge beschwöre die Macht seines Drachen auf eigene Weise. Lord Tyron hielt seinen Kompass zwischen den Händen wie im Gebet und seine Lippen bewegten sich in stummem Gesang. Silvo hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sah zum Himmel auf und wiegte seinen Kompass in den ausgestreckten Händen. Ich warf Ido einen raschen Blick zu und erstarrte vor Schreck. Er drückte sich die geschliffene Kante seines Kompasses in die Hand und etwas Blut umgab bereits die behelfsmäßige Schneide. Ich sah zu, wie er sie sich tiefer ins Fleisch drückte. Dann schlossen sich seine Lider halb, und er überließ sich einer Verzückung, die ich nicht verstand und die seine bernsteinfarbenen Augen mit flüssigem Silber überflutete.
    Abgestoßen wandte ich den Blick von seinem leeren Starren ab. Die übrigen Drachenaugen waren noch dabei, sich in Trance zu versetzen und langsam Verbindung zu ihren Tieren aufzunehmen. Nur Lord Ido und ich konnten so rasch in die Energiewelt eintreten, als gingen wir von einem Zimmer ins nächste. Lag es daran, dass wir beide Herrschende Drachenaugen waren? Oder glich ich ihm auf andere Art? Dieser Gedanke ließ mich frösteln.
    Ich hielt meinen rubinroten Kompass noch fester. Hatte das Sonnenpulver gewirkt? Jetzt würde es sich zeigen. Trotz der erstickenden Schwüle spürte ich eine kalte Welle der Hoffnung wie der Angst durch mich hindurchgehen. Dies war meine letzte Chance.
    Ich sah auf meinen Kompass hinunter. Er war schön und nutzlos, doch ich musste so tun, als wüsste ich, wie ich ihn einzusetzen hatte. Ich konzentrierte mich auf den Rubin, wie Tyron es mir gezeigt hatte, atmete tief durch und suchte die Pfade meines Hua. Langsam verschmolzen die Facetten des roten Edelsteins miteinander, wirbelten erst vor, dann in meinen Augen und zogen mich in die Energiewelt hinein.
    Donner krachte. Der Himmel über uns war voller gewaltiger Drachen, die über dem Dorf und den jagenden schwarzen Wolken kauerten und mit riesigen Geisteraugen auf mich herunterstarrten. Sie hatten einen Kreis gebildet, und jeder Drache bewachte seinen Kompasspunkt. Grün, violett, grau, rosa, blau, orange. Sie alle waren bereit zu tun, was wir ihnen auftragen würden. Ich erhob mich und drehte mich um, denn ich wollte den roten Spiegeldrachen in meinem Rücken sehen. Ich wollte seine Macht spüren. Ich wollte endlich ein richtiges Drachenauge sein.
    Doch da war kein Drache.
    Das Gefühl niederschmetternden Verlusts traf mich in die Brust, bevor ich verstand, was ich sah. Da war kein Drache – nicht einmal ein schwacher Umriss seines roten Leibes. Nur die Dörfler, die zu mir aufgafften. Und

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