Drachentochter
der dunkle, gewittrige Himmel.
Ich taumelte zurück und ließ meinen Kompass fallen. Er klirrte auf die Steine und rollte weg.
Mein Drache war verschwunden.
Ich hatte bereits versagt. Diese furchtbare Wahrheit ließ mich auf alle viere fallen. Aus dem vorsichtigen Gemurmel an den Rändern des Platzes lösten sich schrille Warnschreie. Die Dörfler begriffen, dass etwas nicht stimmte. Die anderen Drachenaugen waren noch immer in der Energiewelt versunken und ihre Drachen lauschten und hielten die gewaltigen Köpfe dabei zur Seite geneigt.
»Wo bist du?«, schrie ich die Lücke im Drachenkreis an. »Komm wieder. Was habe ich falsch gemacht?«
Unsanft wurde ich am Arm gepackt und auf die Beine gezogen. Ich hatte blaue Seide vor Augen, und als ich aufsah, blickte ich in die mitleidlose Miene von Lord Ido.
»Ruhe«, flüsterte er schroff, und sein heißer Atem schlug mir ans Ohr. Mein Kopf zuckte vor seiner brutalen Zudringlichkeit zurück, doch er presste mich an sich. Das silberne Leuchten in seinen Augen verging und nur golden gesprenkelter Triumph stand noch darin. »Nehmt Euren Platz wieder ein. Ich übernehme die Leitung.«
Ich entwand mich seinem Griff. Mein Schreck schlug in Wut um. Wut auf ihn. Auf mich. Auf den Spiegeldrachen.
»Lasst mich los!«
Ich war nicht schnell genug. Ido ergriff mich am Handgelenk, drehte mir den Arm um, was furchtbar wehtat, und schob mich zu meinem Sitz. Ich spürte das Blut seiner Wunde auf meiner Haut.
»Ihr habt versagt, Lord Eon«, rief er der Menge zu. »Macht also Platz und schaut Euch an, wie ich diese Provinz vor Eurer jugendlichen Eitelkeit rette.«
Über ihm ragte die riesige blaue Gestalt des Rattendrachen auf. Ido hatte seine Verbindung mit dem Tier unterbrochen, um sich an meinem Scheitern zu ergötzen. Ich sah in die dunklen andersweltlichen Augen des blauen Drachen. Ich hatte ihn schon einmal gerufen. Ich konnte ihn erneut rufen. Es gab immer noch einen Weg für mich, ein wahres Drachenauge zu werden.
Ich spürte meinem Hua nach und sammelte die zähe graue Kraft des Sonnenpulvers in den sieben Energiepunkten meines Körpers. Der Spiegeldrache hatte sich mir entzogen, doch dem Rattendrachen konnte ich noch immer befehlen. Ich nahm all meinen Zorn und Schmerz zusammen und schleuderte dem riesigen blauen Tier vor mir die Energie entgegen – und griff nach seiner Macht.
Lord Ido keuchte, während das silbrige Leuchten ihm wieder in die Augen stieg. Er fiel auf die Knie und zog mich mit.
Ein Stöhnen lief über den Dorfplatz. Das Gewicht des Lords auf mir fesselte mich ans Podium, doch zugleich erhob ich mich darüber und erlebte mich als gewaltiges Wesen, das durch den Boden hindurch auf das Netzwerk der Macht sah, das ihm zu Gebote stand. Ich war der blaue Drache. Ich war der Hüter des Nordnordwestens. Ich war Wind und Regen, Licht und Dunkel. Ich war …
… ein anderes Wesen. Erinnerung erfüllte mich. Und Ehrgeiz. Routiniert ausgeübte Macht, unstillbares Begehren, gefährliches Wissen. Lord Ido bemächtigte sich meiner! Sein Schmerz und seine abartige Lust. Sein Stolz und seine Wut. Ich kämpfte gegen seine erstickende Bösartigkeit an und versuchte, seinem Einfluss auf meinen Körper wie meinen Geist zu entgehen. Ich versuchte, seine Macht auf ihn zurückzuwerfen, doch sie rang mich nieder und zerrte mich in den Morast seiner Wahrheit.
Lasst mich los!
Mein Schrei war stumm gewesen, doch Idos silbrige Augen weiteten sich, und ich wusste, dass er ihn gehört hatte.
Er legte mir die Hand auf den Mund und der metallisch-süße Geschmack seines Blutes ließ mich würgen. Ich spürte, wie er mehr Macht aufsog, mithilfe seines Drachen die Lebenskraft der Erde anzapfte und sie durch seine Energiepunkte hindurch in mich leitete. Seine Augen verdunkelten sich von Silber zu Schwarz. Er drang in mein Hua ein und stieß zu meinem Wesenskern vor. Nach einem Moment erschrockener Stille begriff ich mit plötzlicher Wucht und hörte ihn dann in meinem Geist krächzen:
Du bist mein, Mädchen!
Zersplittert.
Ich schwebte gleichzeitig im Drachenhimmel, drosch auf Idos Verstand ein und wand mich unter seinem Gewicht, das mich aufs Podium drückte. Es gab keinen Mittelpunkt. Kein Selbst. Nur einen heulenden Wahnsinn, den Wut, Angst und Verlust nährten.
Kämpfe!
Eine Stimme. Vertraut und tröstend. Sie ließ mich wieder zu mir kommen und zu einem Schimmer goldener Wahrheit finden, den Ido nicht berühren konnte.
Such es!
Tief in mir öffnete sich eine winzige
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