Drachentochter
wartet!«
Der Dorfälteste Hiron kam angerannt und wedelte mit etwas. Ryko brachte ihn mit erhobener Hand zum Halten.
»Lord Eon reist gleich ab«, sagte er. »Worum geht es?«
Ich beugte mich an Lady Dela vorbei aus dem Fenster. Wir hatten die obligatorischen Dankes- und Abschiedsworte vom Dorfältesten bereits hinter uns gebracht. Was wollte er jetzt?
»Mylord«, keuchte er. »Er ist ein ehrlicher Mann – er hat nur nicht gewusst, wie er sich Euch nähern soll nach der schrecklichen Nachricht vom Tod unseres Kaisers …« Der Alte beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen.
»Wovon redet Ihr?«
»Davon, Mylord.« Hiron hielt den rubinroten Kompass hoch. »Jiecan, unser Bäcker, hat ihn neben dem Podium gefunden. Er ist ein anständiger Mann und kam damit zu mir, sobald er konnte.«
Ich starrte auf die goldene Scheibe. Ich hatte sie fallen lassen, als ich mich umdrehte, um den Spiegeldrachen zu sehen, und feststellen musste, dass er nicht da war. Das schreckliche Verlustgefühl durchfuhr mich erneut.
Hiron wurde bleich. »Bitte, Mylord, seid nicht verärgert. Es war –«
»Ich bin nicht verärgert«, sagte ich und lehnte mich in meinem Sitz zurück. »Gebt ihn Lady Dela.« Ich hatte das Fehlen meines Kompasses nicht einmal bemerkt. Es spielte auch keine Rolle mehr. Mein Drache hatte mich verlassen. Ich verdiente es nicht, jemals wieder ein Instrument der Drachenaugen in den Händen zu halten.
Hiron kam zur Kutsche gehastet, reichte den Kompass hinein und riskierte einen großäugigen Blick auf den Contraire des Hofes. Lady Dela nahm die Scheibe anmutig entgegen und lächelte den überwältigten Mann an.
»Danke, Dorfältester«, sagte sie leise.
»Ja, und richtet auch Eurem Bäcker meinen Dank aus«, fügte ich hinzu.
Der Alte verneigte sich und zog sich zurück, wobei er Lady Dela weiter anstarrte.
Ryko schloss die niedrige Kutschentür, bestieg sein Pferd und ritt neben unseren Wagen. Er beugte sich im Sattel vor, sah zu uns in die Kabine und wartete auf meine Anweisungen.
»Abfahrt«, sagte ich nur.
Er gab das Kommando. Die Kutsche ruckte an und fand rasch zu ihrem gut gefederten Schaukeln. Ich sah mich nach den kleiner werdenden Gestalten von Tyron und Silvo um, die schweigend und reglos inmitten der lärmenden Vorbereitungen ihrer Helfer standen, konnte ihren ernsten Gruß aber nicht erwidern.
Lady Dela hielt mir den Kompass hin. »Verzeiht, Mylord, dass ich Euch nicht zu Eurem glorreichen Sieg über Ido gratuliert habe. Das liegt an der traurigen Nachricht vom Tod des Kaisers.« Sie hielt inne und schluckte, wobei die schwarze Perle an ihrer Kehle auf und nieder hüpfte. »Diese traurige Nachricht hat mich einfach überwältigt. Aber Euer Mut und Eure Kraft haben den Einfluss des Rats gesichert. Seine Majestät hatte recht: Die Götter haben Euch gesandt, um den Prinzen auf den Thron zu bringen.«
Ich konnte ihre Dankbarkeit nicht ertragen. »Niemand hat mich gesandt«, erwiderte ich schroff.
Lady Dela blinzelte überrascht. »Es … es tut mir leid, Mylord.«
Rilla räusperte sich. »Kann ich Euch etwas Wein oder Wasser anbieten, Mylord?«
»Nein, ich will nichts trinken.«
Zögernd hielt Lady Dela mir erneut den Kompass hin. »Es war ein Glück, dass er gefunden und zurückgegeben wurde«, sagte sie, ohne auf meinen schroffen Ton einzugehen. »Ich weiß, dass es sich dabei um ein unerlässliches Werkzeug Eurer Kunst handelt. Und er ist sehr schön.« Sie strich mit dem Finger über die gravierte Front.
Ich wollte ihn nicht berühren. »Packt ihn einfach irgendwo dazu«, sagte ich mit wegwerfender Handbewegung.
Doch sie hörte mir nicht zu. All ihre Aufmerksamkeit galt dem Kompass. »Das hier kenne ich«, sagte sie und zog eins der Schriftzeichen mit der Fingerspitze nach. »Es bedeutet Himmel. Das ist eine alte Variante der Frauenschrift.« Sie tippte auf ein andres Zeichen. »Wahrheit. Das hier bedeutet Wahrheit.« Sie sah auf: »Warum ist ein Werkzeug der Drachenaugen in Frauenschrift verfasst?«
Ich war wie erstarrt. Tausend Lügen brachen in mir zusammen und das Rauschen in meinen Ohren ertränkte alles bis auf das Wort Frauenschrift .
»Was steht denn dort?«, flüsterte ich.
Lady Dela warf mir einen bohrenden Blick zu.
»Was steht dort?«, schrie ich.
Mit einem Ruck zog sie sich in ihren Sitz zurück. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Kutscher sich nach uns umblickte. Rilla starrte mich an und ihr Gesicht wirkte seltsam eingefallen vor Schreck.
Ich zwang mich,
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