Drachentochter
»Kommt nicht heraus. Zeigt nicht einmal Euer Gesicht.« Sie strich sich das Haar glatt, und ich sah, dass ihre Hand zitterte. »Das wird ihn umbringen.«
Die Kutsche wurde langsamer und kam schließlich ruckartig zum Stehen. Ryko wendete daraufhin sofort sein Pferd. Lady Dela warf mir einen letzten vorwurfsvollen Blick zu und stieg dann rasch aus dem Wagen, damit Ryko der Kutsche nicht zu nahe kam.
Rilla begann, Schachteln aus dem Proviantkorb zu nehmen. »Ihr solltet auch etwas essen. Es wird vermutlich einige Zeit dauern, ehe wir weiterfahren.«
Ich reckte den Hals, um über die Schulter des Kutschers sehen zu können. Ryko war abgesessen und hatte die Zügel seinem Stellvertreter überlassen. Als Lady Dela auf ihn zukam, verbeugte sich der Insulaner und neigte fragend den Kopf zur Seite. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sie die leere Straße entlangzubegleiten, und als die beiden sich entfernten, gingen ihre Stimmen in den Rufen der Vögel unter, die sich ringsum niedergelassen hatten. Plötzlich entfernte Ryko sich einen Schritt von Lady Dela und blickte mit geballten Fäusten zur Kutsche zurück. Zwar konnte ich seine Miene im Dämmerlicht nicht deutlich erkennen, doch seine Wut überwand die Entfernung zwischen uns. Lady Dela griff ihn am Arm, und das hatte nichts Weibliches. Ich beobachtete, wie er sich wieder zu ihr umdrehte. Seine angespannte Körperhaltung verriet, wie sehr er um Fassung rang.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
»Ihr hättet es mir sagen sollen«, meinte Rilla. Sie öffnete eine weitere Schachtel, die prall mit gedünstetem, silbrig schimmerndem Aal gefüllt war, und stellte sie auf den Sitz neben mich. »Vielleicht hätte ich Euch helfen können.«
»Wie?«, fragte ich. »Steht dir der Name meines Drachen etwa auf der Stirn geschrieben?« Sofort bereute ich meinen Spott. Wenigstens sprach sie mit mir. »Verzeih«, bat ich. »Du hast recht – ich hätte es dir sagen sollen.«
»Genau genommen hättet Ihr es dem Meister sagen sollen«, erklärte Rilla.
»Ich dachte, ich könnte den Namen herausfinden, ehe jemand merkt, dass ich keine Macht besitze. Bevor er es merkt. Und dann ist er gestorben.«
Rilla seufzte. »Tja, das ist nun alles Geschichte.« Sie stapelte die lackierten Deckel aufeinander und legte sie in den Korb zurück. Dann faltete sie die Hände im Schoß, saß einen Moment lang reglos da und sah in die heraufziehende Dunkelheit hinaus.
Dann blickte sie mir in die Augen. »Ist jetzt also die Zeit gekommen, Lord Eon?«
Ich wandte mich von ihrer ruhigen Würde ab. »Ich bin nicht mehr dein Herr, Rilla.«
»Oh doch, das seid Ihr«, erwiderte sie, und ihr scharfer Ton ließ mich sie ansehen. »Ihr müsst für uns alle Lord Eon sein. Für mich, für Chart, für die beiden dort vorn. Und für den neuen Kaiser.« Sie hob das Kinn. »Ich frage Euch erneut, Lord Eon: Ist die Zeit jetzt gekommen?«
»Ja«, antwortete ich schließlich. »Nimm Chart und flieh mit ihm möglichst weit weg.«
Endlich kam Lady Dela zur Kutsche zurück. Ihre grimmige Miene war Antwort genug auf unsere Fragen und wir setzten unsere Reise schweigend fort. Ryko ritt uns weiter im gewohnten Abstand voraus, saß aber die ganze Zeit steif und hoch aufgerichtet im Sattel. Ich beobachtete ihn eine Weile, doch er blickte sich nicht um. Selbst beim Pferdewechsel hielt er sich von uns fern.
In tiefer Nacht erst brachte ich es fertig, etwas zu essen, während Lady Dela mir in knappen Worten die kaiserliche Geisterwache erklärte. Ich konzentrierte mich, so gut es ging, auf meine Rolle bei den aufwendigen Ritualen und ignorierte die unausgesprochene Angst, die über uns schwebte – die Angst, dass ich wahrscheinlich nicht lange genug leben würde, um sie auszuführen.
Obwohl mein Geist längst keine Ruhe mehr fand, hielt mein erschöpfter Körper nicht länger durch und ich schlief nach dem dritten und letzten Pferdewechsel ein. Zuweilen rüttelte mich ein Stück schlechter Straße wach, und dann lehnte ich mich aus der Kutsche, um Ryko noch immer vor uns reiten zu sehen. Nach den langen Stunden des Reisens hätte er vor Müdigkeit gebeugt sein sollen, doch er saß noch immer kerzengerade und in gespannter Aufmerksamkeit auf seinem Pferd. Vielleicht hielt ihn ja sein Zorn aufrecht. Oder der Hass.
Ich war froh, wieder in die Bewusstlosigkeit des Schlafs zu sinken.
Die Rufe der Straßenhändler rissen mich schließlich aus dem Schlummer, und ich erwachte in eine Kutschenecke gekauert, als wir
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