Drachentochter
Kaisers zu bewachen.« Er verbeugte sich tief. »Mögen Eure heiligen Pflichten ihm den Weg zu seinen edlen Vorfahren erleichtern.«
Die herzzerreißende Totenklage um uns herum wurde leiser und ging in die gemäßigten Töne eines gemeinsam gesprochenen Gebets über, dessen Takt von einem Priester am anderen Ende des Platzes vorgegeben wurde.
»Eine weise Maßnahme unseres neuen Kaisers«, sagte Tyron so leise, dass Silvo sich zu ihm beugen musste. »Vor allem, da Lord Eon seine Kraft und seine Führungsqualitäten nun unter Beweis gestellt hat. Das dürfte Sethon davon abhalten, die Macht zu beanspruchen.«
Ich sah Tyron verblüfft an. »Wie meint Ihr das?«
»Prinz Kygo wird zwölf Tage lang Perlenkaiser sein, bis der Leichnam seines Vaters beigesetzt ist. Danach erst wird er förmlich zum Drachenkaiser gesalbt«, sagte Tyron. »Doch die Perlentage sind sehr gefährlich; jeder Mann von königlichem Geblüt kann den Thron beanspruchen. Deshalb lässt der Perlenkaiser in dieser Zeit auch traditionell seine jüngeren Brüder töten, damit nicht mehrere Seiten Anspruch auf den Thron erheben und es zu Bürgerkriegen kommt.«
»Es handelt sich um das Recht von Reitanon«, bestätigte Lord Silvo nickend. »Doch ich bezweifle, dass unser neuer Kaiser dieser Tradition folgen wird. Er ist schließlich der Sohn seines Vaters.«
»Ja, ich bin sicher, dass er seinen Bruder verschonen wird, denn als Kleinkind bedeutet er keine Gefahr«, sagte Tyron. »Doch Sethon hat aus seinen ehrgeizigen Plänen nie einen Hehl gemacht, und er hat die von seinen jüngeren Brüdern angeführten Armeen hinter sich.«
»Ich kann Großlord Sethon nicht davon abhalten, Ansprüche zu erheben!« Ich packte Tyron am Ärmel. »Ihr dürft nicht darauf bauen, dass ich Sethon aufhalte. Ich kann es nicht!«
Tyron entzog sich meiner verzweifelten Umklammerung.
»Sachte, Lord Eon, sachte. Ihr seid es ja nicht persönlich, der Sethon stoppen wird. Er wird seine Machtbestrebungen aufgeben, wenn er weiß, dass sein Neffe Eure Macht hinter sich hat. Ihr seid das Spiegeldrachenauge und zudem Zweites Herrschendes Drachenauge und inzwischen habt Ihr auch die volle Unterstützung des Drachenrats. Sethon wäre wahnsinnig, wenn er gegen all das antreten wollte – selbst mit den Armeen auf seiner Seite.«
Ich spürte, wie mir ein Schluchzen in die Kehle stieg. Der Prinz und neue Kaiser errichtete seine Festung auf dem Treibsand meiner Macht.
Erneut griff ich Tyron am Arm. »Ihr versteht mich nicht –«
»Lord Eon«, fiel Ido mir dröhnend ins Wort. »Unser neuer Kaiser hat Euch eine hohe Auszeichnung zuteil werden lassen.« Ich spürte seine Hand auf meiner verletzten Schulter. »Er erhebt Euch höher und höher. Bald werdet Ihr die einfache Wahrheit Eurer Anfänge nicht mehr erkennen.«
Mit sanftem Druck drehte er mich, bis ich Rilla und Lady Dela ansah, die in der Nähe standen. Lady Delas bleiche Schminke war tränenverschmiert. Weinte sie um den Tod des alten Kaisers oder um den Verlust ihres mächtigsten Beschützers bei Hof?
»Ich werde meine Anfänge nie vergessen«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Und Eure Pflichten auch nicht – dessen bin ich sicher«, setzte er hinzu und strich mir mit dem Daumen über das Schlüsselbein, ehe er mich losließ.
»Lord Eon ist sich seiner Pflichten vollauf bewusst«, sagte Tyron mit fester Stimme. »So wie wir alle in diesem Moment.« Er winkte Hollin heran. »Ruf den Drachenrat zusammen«, befahl er ihm. »Wir müssen sofort abreisen, um den alten Kaiser zu betrauern und den neuen zu unterstützen.«
Der Anführer der kaiserlichen Boten verneigte sich erneut. »Lord Eon, um Eure Rückkehr in die Stadt zu beschleunigen, hat seine ruhmreiche Majestät, der Perlenkaiser, verfugt, dass in den Dörfern Reisan. Ansu und Diin frische Pferde auf Euch warten.«
Tyron nickte beifällig. »Mit drei Pferdewechseln solltet Ihr die Stadt bis morgen früh erreichen. Wir werden Euch schnellstmöglich folgen. Wenn wir uns sputen, dürften wir uns schon am Abend wiedersehen.«
Der Dorfgong erklang zum ersten der zwölf Trauerschläge. Ringsum fielen die Dorfbewohner nieder und senkten die Stirn aufs Pflaster.
»Helft mir auf die Knie herunter, Freund«, sagte Tyron. »Ich bin so müde, dass ich zu stürzen furchte.«
Ich ergriff seinen Unterarm und hatte alle Mühe, dem schweren Mann beim Hinknien zu helfen. Dann gesellte ich mich zu ihm und den übrigen Drachenaugen, die auf dem Podium niedergesunken
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