Drachentochter
Schicksal ließ sich nicht hetzen. Oben an der Tür erwarteten mich weitere Eunuchen und führten mich an den Reihen der Flehenden vorbei in den halbdunklen Saal. Im unheimlichen Licht ihrer pendelnden Laternen kauerten sie auf dem Boden, und ihre geflüsterten Bitten hallten laut von den Wänden wider, weil es so viele waren. Der eingewickelte Leichnam des Kaisers lag am Kopf des Raums auf einer steinernen Bahre. Daneben stand ein niedriger Tisch mit Opferspeisen in goldenen Schalen und Opferwein in goldenen Kelchen.
Der Prinz und Perlenkaiser kniete auf einem schlichten gewebten Kissen vor seinem Vater. Er hielt den Kopf gesenkt, und ich sah, dass sein Schädel bis auf den gold- und edelsteingeschmückten kaiserlichen Zopf am Hinterkopf bereits rasiert war. Ich musterte seinen Rücken bis zu den Hüften: Er trug weder Schwert noch Messer.
Er hatte nur seine Hände, doch die waren tödlich genug.
Neben ihm lag ein Kissen für den Zweiten Trauernden. Vorsichtig kniete ich darauf nieder, denn der Schmerz in meiner Hüfte setzte mir wieder zu.
Mein Blick glitt von seiner angespannten Begrüßungsmie ne zu der hässlichen blutverkrusteten Wunde unterhalb seiner Kehle. Die Goldfassung mit der Kaiserlichen Perle war stümperhaft in die weiche Stelle zwischen seinen Schlüsselbeinknochen eingenäht worden und noch immer nässte die Wunde in den weißen Stoff seines Gewands.
»Es ist gut, Euch an meiner Seite zu haben, Lord Eon.« Die Stimme des Prinzen klang heiser und unsicher.
Ich sah ihm in die leidenden Augen und griff mir unwillkürlich an die Kehle.
»Der Leibarzt ist letzte Nacht geflohen.« Er schluckte vorsichtig. »Und sein Nachfolger war nervös.« Er brachte ein gezwungenes Lächeln zustande. »Sehr nervös.«
»Geflohen?«
Das Lächeln des Prinzen verhärtete sich. »Man wird ihn finden. Wir beide werden unsere Rache bekommen.« Er senk te den Kopf wieder, da die Flehenden einen Bittgesang beendet und den Gong geschlagen hatten.
Auch ich senkte den Kopf – aber mehr um meinen Schreck über die Veränderung des Prinzen zu verbergen. Etwas in seinem Gesicht und in seiner Stimme ließ mich an Ido denken. Ich unterdrückte meine aufsteigende Angst und dachte über die Bedeutung dessen nach, was der Prinz gesagt hatte. Er glaubte offenbar, der Leibarzt sei in den Tod seines Vaters verwickelt. Und in den Tod meines Meisters. Ob das stimmte? Wieder und wieder ging ich die Ereignisse durch, die zu seinem Tod geführt hatten, ohne der Antwort näher zu kommen, doch das hielt mich davon ab, ständig an den Moment zu denken, in dem ich mit dem neuen Kaiser allein sein würde.
Zwei Stunden später stellten die Flehenden ihre Laternen zu kleinen Kreisen auf dem Boden zusammen, verneigten sich tief und zogen sich aus dem Pavillon zurück. Sofort wurden sie von den zwölf Shola-Priestern abgelöst, die gekommen waren, um die Totenlieder zu singen. Während wir über drei Stunden ihrer komplexen Harmonien hinweg knieten, beobachtete ich, wie sich die Hände des neuen Kaisers langsam zu Fäusten ballten, an denen die Knöchel weiß hervortraten. Ich wusste, dass er mit seinen Schmerzen rang, denn ich hatte oft das Gleiche getan. Er litt – und die Götter mögen mir verzeihen, dass seine körperliche Schwäche mir Hoffnung gab. Vielleicht würde seine Erschöpfung mir die Möglichkeit eröffnen, für meine Sache einzutreten.
Der letzte Totengesang verhallte und eine lastende Stille breitete sich aus. Neben mir atmete der Perlenkaiser tief ein und sammelte Kraft, um sich zu erheben. Als er aufstand, sich vor seinem toten Vater verneigte und sich zu den Priestern umwandte, war von seinem Schmerz nichts zu sehen. Ich kam mühsam auf die Beine, verbeugte mich und bezog meinen Platz neben der Bahre.
Die zwölf Shola-Priester verneigten sich tief und verließen den Raum, sodass nur noch zwei Eunuchen übrig waren. Doch auch sie verbeugten sich nun, zogen sich zurück und schlossen die schweren Türen hinter sich. Jetzt wurde die Kammer nur noch vom schwachen Licht der Laternen erhellt, die die Flehenden zurückgelassen hatten.
Die Geisterwache hatte begonnen.
Der Perlenkaiser strich sich müde über die Stirn. »Holt uns Wein, Lord Eon«, krächzte er und wies auf eine kleine Nische. »Ich glaube, inzwischen kann ich trinken.«
Ich verneigte mich und ging vorsichtig zu einem niedrigen Tisch, auf dem zwei goldene Schalen und eine kostbare Weinkaraffe standen.
»Ich glaube, der Leibarzt hatte bei Lord Brannons Tod
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