Drachentochter
Jahren, die ich Rilla nun kann te, hatte ich sie nie weinen sehen.
»Schon gut«, sagte ich. Das waren dumme, unangemessene Worte, doch Rillas Tränen raubten mir die mühsam errungene Fassung.
Sie nahm meine Hand und drückte sie an ihre Wange. »Was Ihr für Chart und für mich getan habt –«
»Sag ihm …« Ich schwieg, denn ein dicker Kloß saß mir in der Kehle. Es gab zu viel zu sagen. Und zugleich nichts. »Geh, Rilla«, flüsterte ich und ließ ihre Hand los. »Viel Glück.«
Sie stand auf, und ehe sie sich verneigte, sah sie mir für einen langen, trostlosen Moment in die Augen. »Danke, Lord Eon.«
Sie zog sich zurück und war verschwunden.
Lady Dela seufzte. »Sie ist Euch sehr ergeben. Während Ihr im Bad wart, hat sie mir erzählt, wie es zu all dem kommen konnte. Die Saline und Brannons Ehrgeiz.«
Schließlich riss ich meinen Blick von der Tür los. »Das muss eine unterhaltsame Geschichte für Euch gewesen sein«, sagte ich und suchte Zuflucht in meiner ebenso rauen wie löchrigen Schale.
»Nein.« Sie wandte sich dem Spiegel zu. »Ich habe vieles gemacht, um zu überleben, und manches war mindestens so verzweifelt wie Eure Taten.« Sie lächelte gezwungen. »In der Kutsche war ich sehr schroff; das war der Schreck, denn Ihr seid die einzige Hoffnung – na, Ihr wisst ja, welche Erwartungen auf Euch ruhen. Ich finde noch immer, Ihr hättet Euch Ryko und mir anvertrauen sollen, aber ich verstehe, weshalb Ihr es nicht getan habt.«
»Warum helft Ihr mir noch immer? Ich bin wahrscheinlich ein hoffnungsloser Fall.«
Sie hob das Kinn. »Ryko wird Euch und dem Kaiser bis zum Ende dienen. Genau wie ich.«
Die Gefahr, die vor uns lag, brachte mich dazu, ihr einen unverblümten Rat zu geben: »Ihr solltet Ryko sagen, dass Ihr ihn liebt.«
Sie errötete. »Ein Eunuch und ein Contraire – wie die Götter lachen würden«, sagte sie bitter.
»Die Götter lachen längst. Wie sonst könnte die Zukunft eines Reichs auf meinen Schultern ruhen?«
Der Kaiser war im Pavillon der Fünf Geister aufgebahrt, dem einzigen Gebäude im Palastbezirk, das aus kostbarem weißem Marmor errichtet war und dessen Fassade durch den Verzicht auf schmückende Steinmetzarbeiten und Vergoldungen umso beeindruckender wirkte. Meine Eskorte, vier hochrangige Eunuchen, blieben am Fuße der neun Marmorstufen der Trauer stehen, die zum Eingang führten. Links neben jeder Stufe war ein großer Weihrauchkessel aus Messing aufgestellt und die Räucherstäbe erfüllten die Luft mit ihrem schweren, traurig stimmenden Duft. Durch die offene Tür hörte ich die leisen Bittgesänge der Flehenden und sah ihre pendelnden Lampen flackern. Am nächsten Tag würde der Leichnam des Kaisers in die Rotschwarze Audienzhalle am Eingang des Palastbezirks gebracht werden, damit alle Bewohner der Stadt den Toten betrauern konnten. Heute aber würde er hier unter den aufmerksamen Augen des neuen Kaisers und seines Zweiten Trauernden liegen, denen es oblag, den Toten vor der Feindseligkeit böser Geister zu schützen.
Ich blickte mich zu Lady Dela um. Sie hatte mich so weit begleitet, wie es ihr erlaubt war – bis an den Rand des Platzes der Fünf Geister –, und stand nun mit den übrigen schweigenden Höflingen da und wartete darauf, dass ich den Pavillon betrat. »Wir treffen uns in Euren Gemächern«, hatte sie entschieden gesagt, als die Eunuchen mich weiter vorwärts komplimentierten. Ich hatte genickt, doch wir wussten beide, dass das Gelächter der Götter keine Gewähr für ihr Wohlwollen war. Über den weiten Platz hinweg konnte ich Lady Delas Züge nicht erkennen, doch ihre Kopfhaltung verriet mir, dass sie weinte.
Die beiden Eunuchen vor mir traten beiseite und verneigten sich.
»Bitte geht hinauf, Mylord«, sagte der Anführer der Grup pe. »Seine Hoheit, der Perlenkaiser, erwartet Euch.«
Ich sah die Treppe hoch zu dem halbdunklen Bogen, unter dem sich eine Flügeltür befand. Sobald ich diesen Pavillon betrat, war mein Leben verwirkt. Doch ich hatte die Chance zu fliehen bereits verpasst, als ich mit den übrigen Gescheiterten im Sand der Drachenarena darauf gewartet hatte, mich vor einem gleichgültigen Kaiser zu verbeugen. Wie kurz diese schicksalhaften Momente sind und wie schwer zu erkennen! Und nun war wieder so ein Moment gekommen.
Ich erklomm die erste Stufe, dann die zweite. Verzweiflung hat eine Eigendynamik. Nun, da ich meine Entscheidung getroffen hatte, konnte ich die Konsequenzen kaum erwarten.
Doch das
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