Drachentochter

verzählte mich und hob in Panik die Augen, ob es schon wieder Zeit war, mich zu erheben. Der trübe Spiegel vor mir zog meinen Blick an. Er warf kein Bild zurück, sondern war nur eine düstere Leere, die die Helligkeit des Tages verschluckte. Neben mir straffte sich Quon, um aufzustehen. Ich folgte seinem Beispiel und rappelte mich auf. Einen Mo ment lang glitt Sonnenlicht über die dunkle Spiegeloberfläche, und es schien, als würde sie sich in Wellen auf und ab bewegen – eine seltsame Täuschung des Lichts. Wir schritten in unseren zwei Reihen auf den Spiegel zu, um unterhalb seiner schwarzen Fläche zu warten. Ein goldener Drache schlängelte sich an der Oberseite des Rahmens entlang und hielt eine perlenbesetzte Kugel in den rubinfarbenen Klauen. Ich sah in das tintendunkle Glas, doch sonst rührte sich nichts.
    Auf Rannes Kommando drehten wir uns um, sahen in die Arena und fielen erneut auf die Knie, wobei wir die gekreuzten Schwerter zum Gruß hoben. Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, damit der helle Sand mich nicht so blendete, und hatte das Gefühl, mir würde noch der letzte Rest Flüssigkeit entzogen.
    Eine weitere Fanfare erklang. Diesmal galt sie den kaiserlichen Herolden, die als eine Gruppe von acht gleich großen Männern mit gleicher Stimmlage in gerader Linie auftauchten und tief verneigt in die Mitte der Arena eilten. Die Menge trampelte und brüllte. Die Herolde, deren kurze blaue Gewänder wie kleine Flecken Sommerhimmel wirkten, stellten sich zu einem kaiserlichen Achteck auf und wandten sich dann mit einer eleganten Drehung dem Publikum zu. Sie hoben kleine bronzene Gongs über den Kopf und schlugen gleichzeitig einen tiefen, mächtig widerhallenden Ton. Die Menge verstummte sofort.
    »Der Zwölferkreis rückt wieder um eine Stelle vor«, riefen sie gleichzeitig, und ihre Stimmen verschmolzen zu einem durchdringenden Heroldsruf. »Schwein wird Ratte. Lehrling wird Drachenauge. Anwärter wird Lehrling. Der Zwölferkreis rückt wieder um eine Stelle vor.«
    Die Menge tat pfeifend und stampfend ihre Zustimmung kund. Die Männer schlugen erneut ihre Gongs, deren Ton von den Spiegeln abprallte, durch das Lärmen der Menge schnitt und eine plötzliche Stille zurückließ.
    »Der Rattendrache sucht einen neuen Lehrling. Zwölf Anwärter warten darauf, sich als würdig zu erweisen. Mit Zustimmung Seiner Kaiserlichen Majestät und auf Anordnung des Drachenrats wird der Würdigste diesmal nicht durch Schwertvorführungen ermittelt, sondern im Kampf!«
    Für einen Moment blieb alles ruhig. Dann schrie die Men ge los und ihr Getrampel klang wie der Zorn der Donnergötter. Die Zeremonie war plötzlich viel aufregender geworden.
    Ich fuhr mir mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. Irgendwo hinter Lord Ido saß mein Meister zwischen den übrigen Heuris. Ich versuchte, ihn in den beiden Reihen dun kel gekleideter Gestalten auszumachen, deren bestürztes Schweigen sie so deutlich von der jubelnden Menge schied. Dann straffte einer auf vertraute Weise die schmalen Schultern, und ich wusste, dass es mein Meister war. Es war eine Geste des Trotzes angesichts einer schier hoffnungslosen Lage.
    Der Gong ertönte erneut.
    »Anwärter Hannon, nähert Euch den Spiegeln«, riefen die kaiserlichen Herolde im Chor. »Tretet Schwertmeister Jin-pa entgegen und zeigt dem Rattendrachen Euren Wert.«
    Die Menge klatschte und johlte, während die acht Männer sich anmutig verbeugten, wieder eine Linie bildeten und zum Rand der Arena eilten.
    Obwohl wir knieten, veränderten wir leicht unsere Haltung, als Jin-pa und Hannon zum Kampfplatz schritten. Dies war unsere Gelegenheit, dem Kampf zu folgen, Beobachtungen zu machen und unsere Chancen einzuschätzen. Ich drückte das linke Knie tiefer in den Sand, bis ich ein wenig schräg lehnte und einen besseren Blick hatte. Schon während ich meinen Schwerpunkt verlagerte, merkte ich, dass meine Hüfte nicht mehr schmerzte.
    Im Mittelpunkt der Arena verneigten Jin-pa und Hannon sich erst vor dem Spiegel des Rattendrachen, dann voreinander, wie es das Ritual gebot. Erwartungsvolle Stille senkte sich auf die Menge. Hannon schwang seine Schwerter in die Ausgangsstellung, zeigte Jin-pa die Flanke, verlagerte sein Gewicht aufs hintere Bein, streckte eine Waffe aus und zog die andere über den Kopf zurück. Jin-pa tat es ihm nach, senk te die Schwerter dann mit einer Drehung der Handgelenke und zog sie in zwei Achterschleifen schwirrend durch die Luft. Der Büffeldrache.