Drachentochter
Wasser, verneigte mich unter Vans skeptischem Blick immer wieder vor einem imaginären Kaiser und übte die Sequenzen, bis meine unbeholfenen Bewegungen flüssig wurden. Die Minuten vergingen gewiss wie immer, doch ich hatte den Eindruck, jede währte nur eine Sekunde, und der Ruf, in die Arena zu kommen, rückte rasend schnell näher.
Und dann war es so weit.
»Anwärter«, rief Ranne von der Rampe her, »macht euch bereit.«
Für einen Moment erstarrten alle im Saal. Dann meldeten die Trompeten von oben die Ankunft des Kaisers.
»Ihr habt Euch doch den Ablauf der Ereignisse gemerkt?«, fragte Van eilig und trieb mich zur Rampe. »Ihr verbeugt Euch zunächst alle vor dem Ewigen Herrn, kniet dann vor dem Spiegel des Verlorenen Drachen und wartet, bis die Herolde des Kaisers euch einzeln aufrufen.«
Ich nickte.
»Und zählt bei der ersten Verbeugung bis zehn, ehe Ihr Euch wieder erhebt.« Er schob mich in die Reihe hinter Ran ne. »Und nicht aufsehen.«
»Keine Sorge.« Wir tauschten einen raschen Blick. »Dan ke, Van.«
Er tätschelte meinen Arm. »Viel Glück, Eon.« Dann war er verschwunden.
Dillon stand in Jin-pas Reihe auf gleicher Höhe wie ich und grinste mir verlegen zu. Obwohl mich sein Verrat getroffen hatte, erwiderte ich sein Lächeln. Mochten wir einander auch alle als Konkurrenz empfinden: Die eigentliche Gefahr war Lord Ido.
Ich warf Baret einen kurzen Blick zu. Er wirkte seltsam entspannt und seine Augen waren noch immer glasig. Zugleich aber hatte er Schmerzensfalten auf der Stirn. Sein rotes Seidengewand war an der Kehle dunkel – jemand muss te sein Gesicht ins Wasserfass getaucht haben. Er schien erschöpft zu sein. Hatte sich Lord Ido verschätzt? Oder kannte er die Wirkung seiner Macht und hatte er Ranne ins Spiel gebracht, um Baret durch die Zeremonie zu schleusen?
»Erhebt die Waffen zum Gruß«, rief Jin-pa.
Wir kreuzten alle zugleich unsere Schwerter vor der Brust und die dünnen Klingen schwirrten durch die Luft. Ein Beamter, der über dem grauen Gewand eine rote Schärpe trug, tauchte von der Rampe auf und verbeugte sich vor Ranne und Jin-pa.
»Es ist so weit«, sagte er.
Eine weitere Fanfare erklang von oben. Dann folgte ein abgehacktes Kommando von Ranne. Neben und vor mir setzten die Leute sich in Bewegung. Ich schloss mich ihnen an, ohne übers Marschieren hinausdenken zu können, während meine Füße in Erinnerung an die endlosen Exerzierübungen wie selbstverständlich den Takt hielten. Jeder Schritt brachte mich dem oberen Ende der Rampe näher; die Luft wurde wärmer, das Licht heller und die Trompeten klangen lauter.
Ich trat aus dem kühlen Schatten und blinzelte in die blendende Morgensonne. Wir hatten einen großen Kreis aus weißem Sand betreten. Ringsum waren zwölf riesige Spiegel aufgestellt, die in die Arena zeigten. In ihre schweren, mit Juwelen und Jade geschmückten Goldrahmen waren jeweils die zwölf Tierkreiszeichen geschnitzt. Alle Spiegel waren dunkel und tot – bis auf den des Rattendrachen. Er spiegelte endlose Reihen von Menschen wider, deren Gewänder ihnen je nach Stoff und Farbe einen bestimmten Rang zuwiesen: die kostbaren Seidenstoffe der Adligen in den vorderen Sitzreihen; die Goldstickereien der elf Drachenaugen über dem jeweiligen Spiegel; die in Gruppen zusammenstehenden Beamten in grauen Gewändern; die farbenfrohen Baumwoll- und pastellfarbenen Nesselstoffe der städtischen Kaufleute und Arbeiter in den oberen Reihen – Tausende von Menschen, die zusahen, wie wir auf den Thron des Kaisers zuschritten. Zum leisen Schlag der Trommeln und den aufsteigenden Trompetenklängen trat das Gemurmel der Masse. Als wir am Spiegel des Rattendrachen vorbeikamen, fiel das Sonnenlicht plötzlich frontal darauf und ließ ihn gleißend hell erstrahlen. Am Scheitel des Spiegels befand sich die vergoldete Darstellung einer rubinäugigen Ratte, und über dieser Ratte saß Lord Ido, eine große, helle Gestalt inmitten der grauen Gewänder der vielen Beamten. Selbst vom Boden der Arena aus spürte ich seine Macht. Oder vielleicht die Macht des Spiegels.
Ich schwitzte so sehr, dass mir das Gewand im Kreuz kleb te. Ranne brüllte einen Befehl, und wir hielten vor dem Kaiser, der in imperiales Gelb gekleidet war und über dem verfinsterten Spiegel des Verlorenen Drachen thronte. Ich fiel auf die Knie und spürte den heißen Sand durch die Seide hindurch. Vans Stimme hallte in meinem Kopf wider. Zähl bis zehn. Sieh nicht auf. Blick dich nicht um.
Ich
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