Drachentochter
auf etwas gerichtet, das vor ihnen lag. Nichts geschah, doch dann merkte ich, dass seine Hände sich allmählich hoben, wobei die rechte der linken folgte. Sein Körper bewegte sich und das Gewicht verlagerte sich vom linken auf den rechten Fuß. All das ereignete sich so langsam, wie die Sonne über den Himmel zieht. Etwas daran war mir vertraut. Ich blinzelte und versuchte mir vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn die Bewegungen schneller wären. Als sein linker Arm langsam abwärts trieb und der Oberkörper sich zu dieser Bewegung drehte, erkannte ich plötzlich die Sequenz des Zweiten Rattendrachen. Alsdann sah ich alle Schwertfiguren in Tellons anmutiger Darbietung. Er wandelte sie ab, aber ihrem Wesen nach waren sie gegenwärtig. Er endete mit der drängenden Bewegung des Dritten Schweinedrachen und stand dann kurz reglos und mit seltsam weicher Miene da.
»So«, sagte er mit tieferer Stimme. »Lin und Gan sind im Gleichgewicht; der Körper ist also voller Energie und doch entspannt. Dieser Zustand heißt Huan-Lo.« Er lächelte und blickte uns wieder ins Gesicht. »Lehrling Dillon, sagt mir, was Ihr gesehen habt.«
»Es war langsam«, sagte Dillon und warf mir einen kurzen, Hilfe suchenden Blick zu. »Und es war …«
Er verstummte. Tellon seufzte. »Und Ihr, Lord Eon? Habt Ihr vielleicht etwas beobachtet?«
»Ich habe einige Schwertfiguren aus der Zeremonie in der großen Arena erkannt.«
Tellon musterte mich nachdenklich. »Das ist interessant. Die meisten meiner Schüler erkennen das erst, wenn sie weit fortgeschritten sind.« Er rieb sich erneut die Hände. »Gut. Steht auf, damit wir einen Anfang machen.«
Die nächsten zwei Stunden über lernten wir die Elemente der ersten Stellung. Da ich die Angriffssequenz bereits kannte – so hatte ich selbstgefällig gedacht –, würde es leicht sein, ihre Bewegungen auf das Tempo der Staminata zu verlangsamen. Doch ich hatte mich getäuscht. Mal war ich zu schnell; mal vergaß ich zu atmen; dann wieder standen meine Füße im falschen Winkel zueinander, oder ein Arm war zu hoch, der andere zu weit abgespreizt; oder ich hatte das Gewicht auf das falsche Bein verlagert, oder das Bein stimmte zwar, aber ich hatte es dennoch zu stark belastet. Neben mir schlug Dillon sich mit ähnlichen Schwierigkeiten herum und sein in letzter Zeit so unbeherrschtes Wesen machte sich mitunter in enttäuschtem Aufstampfen Luft.
Dann aber spürte ich einen herrlichen Augenblick lang, wie Lin und Gan mich durchflossen. Es war ein sanftes Wiegen, das mich von der Schädeldecke bis zu den Zehen durchströmte, als sei mein Leib nur ein tiefer Seufzer. Alle Schmerzen und meine Steifheit waren verschwunden. Und unter all dem war ein leise flüsterndes Etwas, ein schattenhafter Herzschlag, den ich nicht ganz erreichen konnte. In der Ausgeglichenheit meiner langsamen Bewegungen wusste ich, dass ich dieses Etwas in mich aufzunehmen vermochte. Ich begann, es an mich zu ziehen, dachte dann aber an die sich aufbäumende Gewalt des Rattendrachen. Würde er sich wieder erheben, wenn ich in den Fluss meines Hua eingriffe? Kaum hatte diese Angst mein Bewusstsein gestreift, war es mit meinem fließenden Körpererleben vorbei und ich war einmal mehr steif und unbeholfen. Ein Krüppel.
Verzweiflung nagte an mir. Ich musste den Namen meines Drachen herausfinden, und zwar bald, denn aus Angst, der Rattendrache könnte mich überwältigen, wagte ich noch nicht einmal mehr, mit dem geistigen Auge zu sehen. Gewiss enthielt die Schrift den Schlüssel zu meiner Macht. Ich musste sie zurückbekommen. Ein winziger Stachel allerdings ließ mich zweifeln: Was wäre, wenn der Text keine Antworten enthielte? Ich unterdrückte diese Angst, denn die Schrift des Spiegeldrachen war meine einzige Hoffnung.
Tellon klatschte in die Hände.
»Gut, das reicht fürs Erste. Ich habe gesehen, dass Ihr den Fließzustand einen Moment lang erreicht habt, Lord Eon. Ein guter Anfang. Lasst Euch nicht entmutigen, weil er Euch wieder entglitten ist.« Er warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. »Ihr werdet Euch jetzt wahrscheinlich schwer fühlen. Vermeidet rasche Bewegungen.« Er klopfte Dillon auf die Schulter. »Ein löblicher Versuch, Lehrling. Nun geht beide nach Hause und legt euch schlafen. Ich habe Lord Brannon und Lord Ido klargemacht, dass ihr euch nach dem Unterricht ausruhen müsst.«
Draußen warteten zwei Männer darauf, uns in unsere Quartiere zurückzubringen. Das Gefolge des Prinzen war verschwunden
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