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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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So würde ich den Rest meines Lebens verbringen. Ich durfte mir keine unbedachte Bewegung erlauben, musste stets auf misstrauische Blicke achten und mich vor der Gefahr der Entdeckung hüten. Das Mädchen, das ich einst gewesen war, würde in den vielen Jahren, in denen ich vorgeben musste, ein Junge zu sein, ganz verloren gehen. Oder hatte meine Sonnenenergie einfach über den Mond in mir gesiegt?
    Auf einem kleinen Tisch lagen aufwendig gearbeitete Haarnadeln, Ohrringe und Armreife; neben dem Schmuck stand eine Dose mit Schminkcreme. Ich nahm eine Haarnadel, an deren schmaler Kette fünf goldene Blüten hingen, schlang meine Drachenaugenzöpfe zu einem Dutt zusammen, wie die Zofe ihn getragen hatte, und steckte die Nadel hindurch. Ich drehte den Kopf hin und her und sah mir an, wie die goldenen Blüten vor dem geölten Dunkel meines Haarschopfs schimmerten. Dann drehte ich mich um. Hatte ich Zeit, noch mehr Schmuck anzulegen? In Windeseile nahm ich vier emaillierte Armbänder, schob sie mir übers Handgelenk, schüttelte den erhobenen Arm und betrachtete mein Lächeln im Spiegel, als der Schmuck mit leisem Klirren Richtung Ellbogen glitt. Ich schob mir vier weitere Armreife, die so breit waren, dass sie meine zierlichen Gelenke wunderbar betonten, über die andere Hand. Dann nahm ich ein Paar Ohrringe, deren schwarze Perlen wie dunkle Trauben an goldenen Haken hingen. Anders als Lady Dela hatte ich mir keine Löcher stechen lassen und hielt den Schmuck darum an die Ohrläppchen, was die Armreife zum Klimpern brachte. Die Perlengehänge ließen meinen Hals länger wirken. Ich neigte den Kopf zur Seite und betrachtete die glatte Linie meines weißen Halses. Energie durchpulste mich wie ein zweiter Herzschlag, flüsterte mir etwas zu, rief mich.
    »Lord Eon?«
    Ich fuhr herum. Die Energie versiegte wie ein erstickter Schrei. Lady Dela stand in der Tür und hielt den Vorhang beiseite. Hinter ihr versuchte die Zofe auf Zehenspitzen, über die Schulter ihrer Herrin hinweg etwas zu erkennen.
    »Verschwinde, aber sofort!«, fuhr sie das Mädchen an und schloss den Vorhang hinter sich. Ich hielt die Ohrringe noch immer in den Händen und verbarg sie schnell hinter dem Rücken, ohne Lady Dela aus den Augen zu lassen, in deren Miene kein Erschrecken stand.
    »Lady Dela«, drang Rykos Stimme gedämpft durch den Vorhang. »Prescht bitte nicht so ungestüm vor. Ich muss Eure Zimmer erst inspizieren.«
    Sie zupfte den Vorhang mittig, damit weder links noch rechts ein Spalt blieb. »Alles bestens«, rief sie durch den schweren Stoff hindurch. »Ich bin hier mit Lord Eon. Lass uns allein.«
    Sie wandte sich mir wieder zu. Ihr Gesicht wirkte nun verhärmt.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe nur …«
    Ich verstummte, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
    Sie schüttelte den Kopf und wischte meine Entschuldigung mit einer Handbewegung weg. »Ich bin die Letzte, die eine Erklärung braucht.« Sie blickte zur Tür zurück und fuhr leise fort: »Aber versprecht mir, künftig vorsichtiger zu sein. Ich wünschte, Ihr könntet diese Dinge tragen, ohne Euch in Gefahr zu bringen, doch es gibt Leute in unserer Nähe, die dieses Anderssein nicht dulden werden – auch bei einem Mondschatten nicht. Und Euer hoher gesellschaftlicher Rang wird sie nicht abschrecken. Sie werden Euch verletzen, wie sie mich verletzt haben.«
    Sie zog den reich verzierten Halsausschnitt ihres Gewands herunter. Über dem Herzen verunstalteten einige üble, erst halb verheilte Wunden die glatte Haut ihrer flachen Brust. Im ersten Moment sah ich nur tiefe, hässliche Schnitte. Dann erkannte ich, dass ihr ein Schriftzeichen ins Fleisch geritzt worden war: Dämon.
    Sie betrachtete ihre entstellenden Wunden. »Versteht Ihr mich jetzt? Ihr müsst sehr vorsichtig sein.«
    Ich nickte, erfüllt von dem Grauen angesichts ihrer Verletzungen und der Erleichterung darüber, dass sie die Wahrheit nicht erraten hatte. Doch sie hatte recht: Sollte mein wahres Geschlecht ans Licht kommen, würden sie es nicht damit bewenden lassen, mir ein Brandzeichen ihres Hasses aufzudrücken. Sie würden mich töten, denn ein weibliches Drachenauge war eine Verhöhnung all dessen, was als naturgegeben galt.
    Ich legte die Ohrringe auf den Tisch zurück und stützte mich auf das Möbelstück. Alles in mir schrie danach, Lady Dela zu sagen, wer und vor allem was ich war. Ich schloss die Augen und wartete, bis dieser Drang mich wieder verlassen hatte. Schließlich stand nicht allein

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