Drachentränen
auf die Uhr am Armaturenbrett. 0:18.
Nur noch etwas mehr als sechs Stunden bis zum Morgengrauen.
»Ich bin so müde, ich kann nicht mehr klar denken«, sagte Harry. »Und verdammt noch mal, ich muss denken.«
»Lass uns irgendwo einen Kaffee trinken, was essen. Neue Energie tanken.«
»Yeah, in Ordnung. Wo?«
»Im Green House. Pacific Coast Highway. Das ist eins der wenigen Lokale, die um diese Zeit aufhaben.«
»Green House. Ja, das kenn’ ich.«
Nachdem sie schweigend noch einen Hügel hinuntergefahren waren, sagte Connie: »Weißt du, was ich am unheimlichsten an Ordegards Haus fand?«
»Was?«
»Es erinnerte mich an meine Wohnung.«
»Tatsächlich. Wieso?«
»Jetzt tu nicht so, Harry. Du warst doch heute Abend auch bei mir.«
Harry war eine gewisse Ähnlichkeit aufgefallen, aber er hatte nicht darüber nachdenken wollen. »Er hat mehr Möbel als du.«
»So viel mehr nicht. Kein Krimskrams, keine so genannten dekorativen Elemente, keine Familienfotos. Ein Bild hängt bei ihm, eins bei mir.«
»Aber da ist ein großer Unterschied, ein riesiger Unterschied - du hast dieses Poster aus der Sicht eines Fallschirmspringers, das ist hell und erheiternd, gibt einem ein Gefühl von Freiheit, wenn man es nur ansieht, nicht zu vergleichen mit diesem Dämon, der auf menschlichen Körperteilen herumkaut.«
»Da bin ich nicht so sicher. Bei dem Gemälde in seinem Schlafzimmer geht es um den Tod, um das menschliche Schicksal. Vielleicht ist mein Poster in Wirklichkeit gar nicht so erheiternd. Vielleicht handelt es eigentlich auch vom Tod, davon, immer weiter zu fallen und niemals den Schirm zu öffnen.«
Harry wandte den Blick von der Straße ab. Connie sah ihn nicht an. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen.
»Du hast genauso wenig einen Hang zum Selbstmord wie ich«, sagte er.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weißes.«
»Einen Dreck weißt du.«
Er hielt an einer roten Ampel auf dem Pacific Coast Highway und sah sie wieder an. Sie hatte ihre Augen immer noch nicht geöffnet. » Connie…«
»Ich habe immer die Freiheit gesucht. Und was ist die höchste Freiheit?«
»Sag’s mir.«
»Die höchste Freiheit ist der Tod.«
»Jetzt komm mir nicht mit Freud, Gulliver. Das hab’ ich immer an dir gemocht, dass du nicht versuchst, jeden zu Psychoanalysieren.«
Es sprach für sie, dass sie lächelte. Offenbar erinnerte sie sich daran, dass sie die gleichen Worte ihm gegenüber in dem Hamburger-Restaurant benutzt hatte, nachdem er Ordegard erschossen und sich gefragt hatte, ob sie im Inneren wirklich so hart war, wie sie tat.
Sie öffnete die Augen und sah auf die Ampel. »Grün.«
»Ich hab’ noch keine Lust zu fahren.«
Sie sah ihn an.
Er sagte: »Erst will ich wissen, ob du nur dumm rumquatschst, oder ob du im Ernst glaubst, dass du mit einem Spinner wie Ordegard was gemeinsam hast.«
»All diese Scheiße, die ich immer erzähle, dass man das Chaos lieben muss, es umarmen muss. Nun, vielleicht ist es ja so, wenn man in dieser verkorksten Welt überleben will. Aber heute Abend hab’ ich gedacht, vielleicht bin ich bisher ja nur deshalb so gern darauf geritten, weil ich im stillen gehofft habe, es würde mich auslöschen.«
»Bisher?«
»Ich scheine nicht mehr denselben Geschmack am Chaos zu finden wie früher.«
»Seit Ticktack hast du die Nase voll davon?«
»Nicht wegen ihm. Es ist bloß… vorhin, direkt nach der Arbeit, bevor deine Wohnung niedergebrannt wurde und alles zum Teufel ging, habe ich festgestellt, dass ich einen Grund zum Leben habe, von dem ich bisher nichts wusste.«
Die Ampel schaltete wieder auf Rot. Ein paar Autos rauschten mit einem Wusch auf dem Highway vorbei, und sie sah ihnen nach.
Harry sagte nichts, weil er fürchtete, dass jede Unterbrechung sie davon abbringen könnte, das zu Ende zu erzählen, womit sie gerade angefangen hatte. In den sechs Monaten war ihre eisige Zurückhaltung nie aufgetaut, bis auf den kurzen Augenblick in ihrem Apartment, wo sie drauf und dran gewesen schien, etwas Persönliches, das ihr sehr nahe ging, preiszugeben. Sie war rasch wieder zu Eis geworden, doch nun bildeten sich an der Oberfläche des Gletschers Risse. Sein Verlangen, Zugang zu ihrer Welt zu erhalten, war so stark, dass es genauso viel über sein eigenes Bedürfnis nach einer Bindung aussagte wie über das Ausmaß, in dem sie bisher ihr Privatleben für sich behalten hatte. Er war bereit, wenn nötig die ganzen letzten sechs Stunden seines Lebens an dieser
Weitere Kostenlose Bücher