Drachentränen
Ampel zu verbringen und darauf zu warten, dass sie ihm ein besseres Verständnis für die ganz besondere Frau vermittelte, die seiner Meinung nach unter der harten Schale dieser abgebrühten Polizistin steckte.
»Ich hatte eine Schwester«, sagte sie. »Bis vor kurzem wusste ich nichts von ihr. Sie ist tot. Schon seit fünf Jahren. Aber sie hatte ein Kind. Eine Tochter. Eleanor. Ellie. Jetzt möchte ich nicht mehr ausgelöscht werden, möchte nicht mehr auf der Woge des Chaos reiten. Ich möchte nur die Chance haben, Ellie zu begegnen, sie kennen zu lernen, zu sehen, ob ich sie lieben kann, und ich denke, dass ich das vielleicht kann. Vielleicht hat das, was mit mir als Kind passiert ist, nicht für immer die Liebe in mir ausgelöscht. Vielleicht kann ich mehr als nur hassen. Das muss ich herausfinden. Ich kann es gar nicht erwarten, das herauszufinden.«
Er war bestürzt. Wenn er sie richtig verstand, hatte sie bisher nichts für ihn empfunden, das der Liebe gleichkam, die er seit kurzem für sie empfand. Aber das war schon in Ordnung. Ungeachtet ihrer eigenen Zweifel wusste er, dass sie die Fähigkeit zu lieben besaß und dass sie in ihrem Herzen einen Platz für ihre Nichte finden würde. Und wenn für das Mädchen, warum dann nicht auch für ihn?
Sie fing seinen Blick auf und lächelte. »O Gott, hör dir das an. Ich komm’ mir vor wie einer von diesen neurotischen Bekennern, die ihre Seele in einer Nachmittags-Talkshow im Fernsehen auskotzen.«
»Überhaupt nicht. Ich… ich möchte das hören.«
»Pass auf, gleich werd’ ich dir erzählen, dass ich gerne mit Männern ins Bett gehe, die sich wie ihre Mütter anziehen.«
»Das tust du also?«
Sie lachte. »Wer tut das nicht?«
Er wollte gern wissen, was sie gemeint hatte, als sie sagte, was mit mir als Kind passiert ist, aber er traute sich nicht zu fragen. Diese Erfahrung könnte das Wichtigste in ihrem Leben gewesen sein, zumindest hielt sie selbst sie für das Wichtigste, und sie würde sie nur in ihrem eigenen Tempo preisgeben können. Außerdem gab es tausend andere Fragen, die er ihr stellen wollte, zehntausend, und wenn er einmal anfing, würden sie tatsächlich bis zum Morgengrauen an dieser Kreuzung festsitzen, das bedeutete Ticktack und Tod.
Die Ampel sprang wieder auf Grün. Er bog nach rechts ab. Zwei Blocks weiter nördlich parkte er vor dem Green House.
Als er und Connie aus dem Auto stiegen, bemerkte Harry an der Ecke des Restaurants im Schatten einen schmutzigen Penner. Er saß an einem Weg, der zur Rückseite des Gebäudes führte. Es war nicht Ticktack, sondern ein kleineres, erbärmlich aussehendes Exemplar. Er saß mit angezogenen Beinen zwischen zwei Sträuchern, aß aus einer Tüte, die er auf dem Schoss hatte, trank heißen Kaffee aus einer Thermosflasche und murmelte eindringlich vor sich hin.
Der Kerl beobachtete sie, wie sie auf den Eingang des Green House zugingen. Sein Blick war fiebrig und angespannt. Seine blutunterlaufenen Augen waren, wie das dieser Tage bei vielen Pennern der Fall war, erfüllt von paranoider Angst. Vielleicht fühlte er sich von bösen Außerirdischen verfolgt, die Mikrowellen nach ihm ausschickten, um seine Gedanken zu verwirren. Oder von der feigen Bande der 10082 Verschwörer, die tatsächlich John F. Kennedy erschossen hatten und seitdem insgeheim die Welt beherrschten. Oder von teuflischen japanischen Geschäftsleuten, die sich anschickten, überall alles aufzukaufen, alle anderen zu versklaven und die inneren Organe amerikanischer Kinder roh als Beilage in den Sushi-Bars von Tokio zu servieren. In letzter Zeit schien es, als ob die Hälfte der normalen Bevölkerung - oder was als normal galt - an irgendeine nachweislich lächerliche und paranoide Verschwörungstheorie glaubte. Und für ständig unter Strom stehende Rumtreiber wie diesen Mann waren solche Fantasien ein absolutes Muss.
Connie sagte zu dem Penner: »Kannst du mich hören, oder bist du grad irgendwo auf dem Mond?«
Der Mann starrte sie an.
»Wir sind Cops? Verstehst du? Cops. Wenn du dieses Auto anrührst, während wir nicht da sind, dann sitzt du in einem Entziehungsheim, ehe du kapiert hast, was los ist, drei Monate keinen Schnaps und keine Drogen.«
Zwangsentziehung war die einzige Drohung, die bei manchen dieser Herren der Gosse wirkte. Sie waren bereits so tief gesunken und daran gewöhnt, von den größeren Tieren herumgestoßen und gefressen zu werden. Sie hatten nichts mehr zu verlieren außer der Chance, von billigem
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