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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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der Herrentoilette im Green House gehabt hatte: Der einzige Hinweis, dass ich nicht in einem Märchen gefangen bin, ist das Fehlen eines sprechenden Tiers.
    Seltsam, wie schwer es war, einen Menschen um den Verstand zu bringen. Nach hundert Jahren Psychoanalyse hatten sich die Menschen daran gewöhnt zu glauben, dass geistige Gesundheit ein zerbrechliches Gut war, dass jeder ein potentielles Opfer von Neurosen oder Psychosen war, die durch Misshandlung, Vernachlässigung und selbst durch den ganz gewöhnlichen Alltagsstress ausgelöst werden können. Wenn er die Ereignisse der letzten dreizehn Stunden im Kino gesehen hätte, hätte er sie unglaubwürdig gefunden, wäre sich auf ganz selbstgefällige Weise sicher gewesen, dass die männliche Hauptfigur - also er - unter der Belastung durch so viele übernatürliche Ereignisse und Begegnungen, verbunden mit so viel körperlicher Misshandlung zusammengebrochen wäre. Doch obwohl ihm die meisten Muskeln und die Hälfte seiner Gelenke weh taten, war sein Verstand noch intakt.
    Dann wurde ihm bewusst, dass er nicht unbedingt davon ausgehen konnte, dass sein Verstand noch intakt war. So unwahrscheinlich es auch war, aber vielleicht lag er bereits auf einer psychiatrischen Station, an ein Bett festgeschnallt und mit einem Gummiknebel im Mund, der ihn daran hindern sollte, sich in tollwütiger Raserei die Zunge abzubeißen. Die stille und unbewegliche Welt könnte lediglich eine Wahnvorstellung sein.
    Netter Gedanke.
    Als Connie die Azaleenzweige wieder losließ, fielen sie nicht in ihre ursprüngliche Position zurück. Harry musste sanft dagegen drücken, um sie so weit zu bewegen, dass sie den Hund wieder verbargen.
    Sie standen auf und musterten aufmerksam den Pacific Coast Highway, die nebeneinander liegenden Geschäfte auf beiden Seiten und die dunklen Lücken zwischen den Gebäuden.
    Die Welt war ein riesiger Uhrwerksmechanismus mit einem verbogenen Schlüssel, gebrochenen Federn und eingerosteten Zahnrädern. Harry versuchte sich einzureden, dass er sich allmählich an diesen unheimlichen Zustand gewöhnte, aber ohne viel Überzeugung. Wenn er inzwischen so abgeklärt war, warum hatte er dann kalten Schweiß auf der Stirn, unter den Armen und unten im Kreuz? Trotz der absoluten Stille verbreitete die Nacht keinen beruhigenden Einfluss, denn hinter ihrer friedlichen Fassade lagen zum Zerreißen gespannte Brutalität und plötzlicher Tod; sie war vielmehr abgrundtief unheimlich und wurde es mit dem Verstreichen jeder Nicht-Sekunde noch mehr.
    »Zauberei«, sagte Harry.
    »Was?«
    »Wie im Märchen. Die ganze Welt ist unter einen bösen Zauber geraten, einen Bann.«
    »Wo zum Teufel ist dann die Hexe, die das gemacht hat? Das möchte ich wirklich wissen.«
    »Keine Hexe«, verbesserte Harry. »Die wäre weiblich. Eine männliche Hexe ist ein Hexenmeister. Oder ein Zauberer.«
    Sie schnaubte wütend. »Ganz egal. Verdammt noch mal, wo ist er, warum macht er diese Spielchen mit uns und lässt sich so viel Zeit damit, uns endlich sein Gesicht zu zeigen?«
    Harry schaute auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass das rote Lämpchen des Sekundenanzeigers immer noch nicht blinkte und die Ziffern weiterhin auf 1:29 Uhr standen. »Wie viel Zeit er sich lässt, hängt letztlich davon ab, wie man es betrachtet. Ich nehme an, man könnte sagen, dass er sich bisher* überhaupt noch keine Zeit gelassen hat.«
    Sie bemerkte, dass es auch auf ihrer Uhr weiter 1:29 Uhr war. »Na los, lass es uns hinter uns bringen. Oder glaubst du, der wartet nur darauf, dass wir ihn suchen gehen?«
    Irgendwo in der Nacht ertönte das erste Geräusch seit Eintritt der PAUSE, das sie nicht selbst verursacht hatten. Gelächter. Das tiefe, raue Gelächter des Landstreicher-Golems, der wie ein Talglicht in Harrys Wohnung gebrannt hatte und später wieder aufgetaucht war, um in Ordegards Haus auf ihnen herum zu prügeln.
    Erneut griffen sie ganz aus Gewohnheit nach ihren Revolvern. Dann fiel ihnen wieder die Nutzlosigkeit von Waffen gegen diesen Gegner ein, und sie ließen die Revolver in ihren Holstern.
    Südlich von ihnen, am höher gelegenen Ende des Blocks bog Ticktack auf der anderen Straßenseite in seiner allzu vertrauten Landstreichergestalt um die Ecke. Falls überhaupt etwas anders an ihm war, dann schien der Golem größer als früher zu sein, gut über zwei Meter statt einsneunzig, das Haar noch verfilzter und der Bart noch wilder, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Löwenartiger Kopf.

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