Drachentränen
schließlich ihre Stimme wieder. »Die Zeit ist stehen geblieben… einfach stehen geblieben. Ist das möglich?«
»Was redest du da?«
»Für die ganze Welt stehen geblieben, außer für uns?«
»Die Zeit bleibt nicht… kann nicht… einfach stehen bleiben.«
»Was dann?«
Physik war nie sein Lieblingsfach gewesen. Und obwohl er sich den Naturwissenschaften irgendwie verbunden fühlte, wegen ihrer endlosen Suche nach Ordnung im Universum, war er nicht so naturwissenschaftlich gebildet, wie man es in einem Zeitalter sein sollte, wo die Naturwissenschaften die Wissenschaft an sich waren. Er hatte jedoch genug aus dem Schulunterricht behalten, sich genügend Sondersendungen im Fernsehen angesehen und genügend populärwissenschaftliche Bücher gelesen, um zu wissen, dass das, was Connie gesagt hatte, etliches von dem, was mit ihnen passierte, nicht erklärte.
Zum einen, wenn die Zeit wirklich stehen geblieben war, warum waren sie dann immer noch bei Bewusstsein? Wieso konnten sie das Phänomen erkennen? Warum waren sie nicht in dem Moment, als die Zeit stehen blieb, erstarrt wie der Müll in der Luft und die Motten?
»Nein«, sagte er mit zittriger Stimme, »es ist nicht ganz so einfach. Wenn die Zeit stehen bliebe, würde sich nichts mehr bewegen - oder? -, noch nicht einmal subatomare Teilchen. Und ohne subatomare Bewegung… Luftmoleküle… nun, wären Luftmoleküle dann nicht genauso fest wie Eisenmoleküle? Wie könnten wir dann atmen?«
Als Reaktion auf diesen Gedanken atmeten beide tief und dankbar durch. Die Luft hatte zwar einen leicht chemischen Geschmack, was ähnlich merkwürdig war wie das Timbre in ihren Stimmen, aber sie schien dennoch in der Lage, Leben aufrechtzuerhalten.
»Und das Licht«, sagte Harry. »Die Lichtwellen würden aufhören, sich zu bewegen. Keine Wellen mehr, die wir mit unseren Augen wahrnehmen könnten. Wie könnten wir dann etwas anderes als Dunkelheit sehen?«
Wenn die Zeit tatsächlich stehen bliebe, hätte das mit Sicherheit eine viel katastrophalere Wirkung als die Reglosigkeit und Stille, die sich in jener Märznacht über die Welt gesenkt hatten. Es schien ihm, dass Zeit und Materie untrennbare Teile der Schöpfung seien, und wenn der Fluss der Zeit unterbrochen würde, würde die Materie auf der Stelle aufhören zu existieren. Das Universum würde implodieren - oder nicht? -, in sich selbst zusammenstürzen, in einen winzigen Ball aus extrem dichtem… verdammt, was auch immer für ein dichtes Zeug das gewesen sein mochte, bevor es explodiert war, um das Universum zu schaffen.
Connie stellte sich auf die Zehenspitzen, langte nach oben und drückte den Flügel eines der Falter sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie stellte sich wieder auf die Fußsohlen und zog das Insekt vor ihr Gesicht, um es sich genauer ansehen zu können.
Harry war sich nicht sicher gewesen, ob sie es schaffen würde, die Position des Falters zu verändern oder nicht. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn die Motte unbeweglich in der totenstillen Luft hängen geblieben wäre, so fest an ihrem Platz wie ein Metallfalter, den man an eine Stahlwand geschweißt hat.
»Nicht so weich, wie ein Falter eigentlich sein sollte«, sagte sie. »Fühlt sich an, als sei er aus Taft… oder aus irgendeinem gestärkten Stoff.«
Als sie den Flügel losließ, blieb der Falter an der Stelle in der Luft hängen, wo sie ihn hinbugsiert hatte.
Harry schlug sanft mit dem Handrücken gegen das Insekt und beobachtete fasziniert, wie es ein paar Zentimeter absackte, bevor es wieder in der Luft zur Ruhe kam. Dann verharrte es genauso reglos wie zu dem Zeitpunkt, bevor sie mit ihm herumgespielt hatten, nur in einer neuen Position.
Für sie selbst schien alles ziemlich normal zu sein. Ihre Schatten bewegten sich, wenn sie sich bewegten, obwohl alle anderen Schatten so reglos waren wie die Objekte, von denen sie ausgingen. Sie konnten sich wie gewohnt in ihrer Welt bewegen und darin herumlaufen, aber sie konnten nicht wirklich mit ihr zusammenwirken. Sie hatte es zwar geschafft, den Falter zu bewegen, aber die Berührung hatte ihn nicht in ihre Realität versetzt, hatte ihn nicht wieder zum Leben erweckt.
»Vielleicht ist die Zeit gar nicht stehen geblieben«, sagte sie. »Vielleicht hat sie sich nur für alles außer uns ganz stark verlangsamt.«
»Das kann auch nicht sein.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Das tu ich nicht. Aber ich glaube… wenn wir die Zeit in einem so ungeheuer viel schnelleren Tempo
Weitere Kostenlose Bücher