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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Zeiten erlebt, Abermillionen Tote in Kriegen und Pogromen, die offiziellen mörderischen Wahnsinnstaten von Faschismus und Kommunismus, aber es hatte auch ein paar kostbare Phasen des Friedens gegeben und Gesellschaften, die zumindest eine Zeitlang funktionierten. Also bestand immer noch Hoffnung.
    Er lehnte sich nicht länger gegen den Baum. Er streckte sich und versuchte, seine verkrampften Muskeln zu lockern.
    Der Tag hatte so gut angefangen, aber er war in kürzester Zeit zur Hölle geworden.
    Er war entschlossen, ihn wieder in den Griff zu bekommen. Die Schreibarbeit würde dabei helfen. Nichts konnte die Welt so geordnet und vernünftig erscheinen lassen wie offizielle Berichte und Formulare in dreifacher Ausfertigung.
    Auf der Straße hatte der Wirbelwind noch mehr Staub und Müll zusammengeweht. Eben noch schien der Geistertänzer auf dem Asphalt Walzer zu tanzen. Jetzt tanzte er einen wilden Jitterbug. Als Harry sich einen Schritt von dem Baum entfernte, änderte die Abfallsäule ihre Richtung, kam im Zickzackkurs auf ihn zu und prallte mit erstaunlicher Heftigkeit gegen ihn. Er musste die Augen vor dem beißenden Staub schließen.
    Einen Augenblick lang hatte er die verrückte Vorstellung, er würde wie Dorothy aufgefegt und ins Reich Oz gewirbelt. Über ihm ächzten und schwankten die Äste der Bäume und überschütteten ihn mit noch mehr Blättern. Das Keuchen und Klagen des Windes schwoll für kurze Zeit zu einem heulenden Geschrei an - doch im nächsten Moment herrschte eine fried-hofsartige Stille.
    Jemand sprach unmittelbar vor Harry in einer leisen, rauen und merkwürdigen Stimme: »Ticktack, ticktack.«
    Harry öffnete die Augen und wünschte, er hätte es nicht getan.
    Eine dieser entsetzlichen Gestalten, die auf der Straße hausen, stand kaum einen halben Meter vor ihm. Er war über ein Meter neunzig groß, widerlich und in Lumpen gekleidet. Sein Gesicht war stark von Narben und nässenden Wunden entstellt. Seine Augen waren zusammengekniffen, kaum mehr als Schlitze, und klebrige weiße Gerinnsel klumpten sich in den Ecken. Der Atem, der durch die faulen Zähne des Penners und über seine eiternden Lippen kam, war so übel, dass Harry von dem Gestank würgen musste. -
    »Ticktack, ticktack«, wiederholte der Landstreicher. Er sprach ganz ruhig, doch es wirkte wie ein Schrei, weil seine Stimme das einzige Geräusch auf der Welt zu sein schien. Eine übernatürliche Stille senkte sich über alles.
    Harry fühlte sich von der Größe und dem extrem verdreckten Zustand des Fremden bedroht und ging einen Schritt zurück. Das fettige Haar des Mannes war mit Schmutz, Fetzen von Grashalmen und Blättern durchsetzt; sein wirrer Bart war von trockenen Essensresten und Schlimmerem verkrustet. Seine Hände waren vom Schmutz ganz dunkel, und unter jedem ausgefransten, wild wuchernden Fingernagel war ein teerschwarzer Rand. Er war zweifellos eine wandelnde Petrischale, in der jede der Menschheit bekannte tödliche Krankheit gedieh, und ein Brutherd neuer virologischer und bakteriologischer Schrecken.
    »Ticktack, ticktack.« Der Penner grinste. »In sechzehn Stunden bist du tot.«
    »Verschwinde«, warnte Harry.
    »Tot im Morgengrauen.«
    Der Penner öffnete seine zusammengekniffenen Augen. Sie waren durch und durch blutrot, ohne Iris oder Pupille, als ob, wo die Augen hätten sein sollen, nur Glasscheiben wären und der Schädel mit Blut gefüllt.
    »Tot im Morgengrauen«, wiederholte der Penner.
    Dann explodierte er. Es war nicht mit dem Einschlag einer Handgranate zu vergleichen, keine tödlichen Schockwellen und kein Schwall von Hitze, kein ohrenbetäubender Knall, nur ein plötzliches Ende der unnatürlichen Ruhe und ein heftiges Einsetzen des Windes. Der Penner schien sich aufzulösen, nicht in Fleischbrocken und Blutklumpen, sondern in Kieselsteine, Staub und Blätter, in Zweige, Blütenblätter und trockene Klumpen Erde, in alte Lumpenteile und Fetzen vergilbten Zeitungspapiers, Kronkorken, glitzernde Glassplitter, zerrissene Theaterkarten, Vogelfedern, Kordel, Bonbonpapier, Kaugummifolie, gebogene und verrostete Nägel, zusammengeknüllte Pappbecher, verlorene Knöpfe.
    Die wirbelnde Müllsäule brach über Harry auseinander. Er war gezwungen, die Augen zu schließen, als die profanen Überreste des mysteriösen Penners auf ihn herabregneten.
    Als er die Augen wieder ohne Verletzungsgefahr öffnen konnte, fuhr er herum, schaute nach allen Seiten, doch der durch die Luft fliegende Müll war

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