Drachentränen
verschwunden, in alle Himmelsrichtungen verstreut. Kein Wirbelwind. Kein Geistertänzer. Kein Penner. Er war fort.
Harry drehte sich noch einmal ungläubig starrend um sich selbst.
Sein Herz klopfte wild.
Aus einer anderen Straße plärrte eine Autohupe. Ein Kleintransporter kam um die Ecke und näherte sich ihm mit brummendem Motor. Auf der anderen Straßenseite ging ein junges Paar Hand in Hand, und das Lachen der Frau klang wie kleine silberne Glocken.
Plötzlich wurde Harry bewusst, wie unnatürlich still alles um ihn herum zwischen dem Auftauchen und Verschwinden des in Lumpen gekleideten Riesen gewesen war. Bis auf die raue und bösartige Stimme und das Geräusch der wenigen Bewegungen, die der Penner gemacht hatte, war es auf der Straße so still gewesen wie in dreitausend Meilen Tiefe unter dem Meeresspiegel oder im leeren Raum zwischen den Galaxien.
Blitze flammten auf. Die Schatten der Äste zuckten um ihn herum auf dem Bürgersteig.
Donner trommelte auf der zerbrechlichen Membrane des Himmels, trommelte immer fester, der Himmel wurde schwärzer, als ob er von Blitzen verbrannt wäre, die Temperatur schien von einem Augenblick auf den anderen um zehn Grad zu sinken, und die beladenen Wolken platzten auf. Vereinzelte dicke Regentropfen klatschten gegen die Blätter, prallten mit einem dumpfen Ton von den Motorhauben der Autos, hinterließen dunkle Flecken auf Harrys Kleidung, bespritzten sein Gesicht und trieben ihm die Kälte bis tief in die Knochen.
Kapitel 9
Um das parkende Auto herum schien sich die Welt aufzulösen, als ob die Wolken Ströme eines universalen Lösungsmittels von sich gegeben hätten. Silbriger Regen lief an der Windschutzscheibe herunter, und die Bäume draußen schienen genauso leicht zu schmelzen wie grüne Zeichenkreide. Dahineilende Fußgänger verschwommen mit ihren Regenschirmen und zerflossen in dem grauen Wolkenbruch.
Harry Lyon fühlte sich, als ob er ebenfalls zerfließen, in eine gefühllose Lösung verwandelt und rasch weggespült würde. Seine sichere Welt aus steinerner Vernunft und stählerner Logik zerfiel um ihn herum, und er hatte nicht die Kraft, den Auflösungsprozess aufzuhalten.
Er war sich nicht sicher, ob er den riesigen Landstreicher wirklich gesehen hatte, oder ob er nur eine Halluzination gewesen war.
Es war weiß Gott bekannt, dass eine Unterklasse der Besitzlosen durch das Amerika dieser Tage herumstreunte. Je mehr Geld die Regierung dafür ausgab, ihre Zahl zu reduzieren, desto mehr wurden es, bis es so aussah, als ob sie nicht das Ergebnis staatlichen Eingreifens oder mangelnden staatlichen Eingreifens wären, sondern eine Geißel Gottes. Wie so viele Menschen hatte Harry sich angewöhnt, an ihnen vorbei oder durch sie hindurch zu blicken, weil er ihnen offenbar in keiner Weise sonderlich hilfreich sein konnte… und weil ihre bloße Existenz beunruhigende Fragen hinsichtlich der Sicherheit seiner eigenen Zukunft auslöste. Die meisten waren erbärmlich und harmlos. Doch einige waren unbestreitbar seltsam, ihre Gesichter wurden von nervösen Zuckungen gepeinigt, die auf neurotische Zwänge hindeuteten, sie wurden von zwanghaften Bedürfnissen getrieben, in ihren Augen schimmerte der Wahnsinn, und in der unablässig angespannten Haltung ihrer Körper zeigte sich die Bereitschaft zur Gewalt. Selbst in einer Stadt wie Laguna Beach, die in den Reiseprospekten als Perle des Pazifiks, als eins der kalifornischen Paradiese dargestellt wurde, würde Harry mit Sicherheit ein paar obdachlose Männer finden, deren Verhalten und Aussehen genauso feindselig waren wie bei dem Mann, der anscheinend aus dem Wirbelwind gekommen war.
Er konnte allerdings nicht erwarten, dass er einen finden würde, der scharlachrote Augen ohne Iris und Pupille hatte. Er war auch nicht davon überzeugt, dass er einen Landstreicher aufspüren würde, der die Fähigkeit hätte, sich aus einer Staubsäule zu materialisieren oder in einem Haufen profanen Mülls zu explodieren und mit dem Wind davonzufliegen.
Vielleicht hatte er die Begegnung nur geträumt.
Das war eine Möglichkeit, die Harry nur ungern in Betracht zog. Die Verfolgung und Ausschaltung James Ordegards war traumatisch gewesen. Doch er glaubte nicht, dass die Konfrontation mit Ordegards blutrünstiger Raserei einen solchen Stress verursacht hatte, dass sie ihn ein Phantom inklusive schmutzigen Fingernägeln und mörderisch schlechtem Atem halluzinieren ließ.
Falls der verdreckte Riese real gewesen war, wo
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