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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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gab.
    »Komm mit in die Küche«, sagte Ricky.
    Harry folgte ihm über den gebohnerten Eichenholzfußboden. Ricky schlurfte, er hob seine Füße nie richtig hoch.
    Der kurze Flur wurde nur durch das Licht erhellt, das aus der Küche an seinem hinteren Ende kam, und von einer Votivkerze, die in einem rubinroten Glas flackerte. Die Kerze gehörte zu einem Muttergottes-Altar, der auf einem schmalen Tisch an einer Wand stand. Dahinter war ein Spiegel mit einem Rahmen aus Blattsilber. Der Widerschein der kleinen Flamme schimmerte auf dem Blattsilber und tanzte im Spiegel.
    »Wie ist es dir ergangen, Ricky?«
    »Ganz gut. Und dir?«
    »Mir ging’s schon besser«, gab Harry zu.
    Obwohl er so groß war wie Harry, schien Ricky etliche Zentimeter kleiner zu sein, weil er sich nach vorne beugte, als ob er gegen einen Wind ankämpfte. Sein Rücken war krumm, und die scharfen Umrisse seiner Schulterblätter bohrten sich deutlich sichtbar gegen den Stoff seines blassgelben Hemdes. Von hinten wirkte sein Hals dürr. Die Rückseite seines Schädels sah so zerbrechlich aus wie bei einem Kleinkind.
    Die Küche war größer, als man es in einem Bungalow erwartete, und viel freundlicher als der Flur: ein Fußboden aus mexikanischen Fliesen, Schränke aus knorrigem Kiefernholz und ein großes Fenster, das auf einen geräumigen Hinterhof ging. Im Radio lief ein Stück von Kenny G. Der Duft von frischem Kaffee hing in der Luft.
    »Magst du ‘ne Tasse?« fragte Ricky.
    »Wenn’s keine Mühe macht.«
    »Überhaupt nicht. Hab’ gerade eine Kanne gemacht.«
    Während Ricky eine Tasse plus Untertasse aus einem der Schränke holte und Kaffee einschüttete, betrachtete Harry ihn. Was er sah, machte ihm Sorgen.
    Rickys Gesicht war zu schmal, von tiefen Falten an den Augenwinkeln und um den Mund herum zerfurcht. Seine Haut hing schlaff herunter, als ob sie jegliche Spannkraft verloren hätte. Seine Augen waren wässrig. Vielleicht lag es ja nur an seinem Hemd, doch seine weißen Haare hatten einen ungesunden Gelbstich, und auch sein Gesicht und das Weiße seiner Augen zeigten eine Spur von Gelbsucht.
    Er hatte noch mehr Gewicht verloren. Seine Sachen schlackerten ihm am Leib. Der Gürtel saß im letzten Loch und sein Hosenboden hing herunter wie ein leerer Sack.
    Enrique Estefan war ein alter Mann. Er war erst sechsunddreißig, ein Jahr jünger als Harry, aber trotzdem war er ein alter Mann.
     

Kapitel 10
     

    Einen großen Teil der Zeit lebte die blinde Frau nicht nur im Dunkeln, sondern in einer anderen Welt, die mit der, in die sie geboren worden war, wenig zu tun hatte. Manchmal war diese innere Welt ein äußerst fantasievolles Königreich mit rosa- und bernsteinfarbenen Schlössern, Palästen aus Jade, luxuriösen Hochhauswohnungen und Anwesen in Bei Air mit weiten grünen Rasenflächen. An diesen Schauplätzen war sie Königin und unumschränkte Herrscherin - oder eine berühmte Schauspielerin, ein Fotomodell, eine gefeierte Romanautorin oder eine Ballerina. Ihre Abenteuer waren aufregend, romantisch und inspirierend. Zu anderen Zeiten war es jedoch ein Reich des Bösen mit finsteren Verliesen, vor Feuchtigkeit triefenden Katakomben voller verwesender Leichen, verwüsteten Landschaften, so grau und öde wie Mondkrater und von abscheulichen und bösartigen Wesen bevölkert, wo sie immer auf der Flucht war, sich versteckte und Angst hatte, niemals mächtig oder berühmt war, sondern oft nichts anhatte und fror.
    Zuweilen enthielt ihre innere Welt nichts Konkretes, war nur eine Sphäre von Farben, Klängen und Gerüchen ohne Form und Substanz, und sie ließ sich verwundert und staunend dahin treiben. Oft erklang Musik - Elton John, Three Dog Night, Nilsson, Marvin Gaye, Jim Croce, die Stimmen aus ihrer Zeit-, und die Farben wirbelten und explodierten als Begleitung zu den Songs, eine Lightshow, die so strahlend schön war, dass das wirkliche Leben dem nichts entgegensetzen konnte.
    Doch selbst in diesen gestaltlosen Phasen konnte sich das Zauberland in ihrem Kopf verdunkeln und zu einem Furcht erregenden Ort werden. Dann verschmierten die Farben und wurden düster, die Musik disharmonisch und Unheil verkündend. Sie hatte das Gefühl, als ob sie von einem eisigen und aufgewühlten Fluss fortgespült würde, in seinem bitterkalten Wasser zu ersticken drohte, um Atem kämpfte, aber nicht atmen konnte; dann gelangte sie an die Oberfläche und zog in tiefen Zügen säuerliche Luft ein, verzweifelt, weinend und darum betend, an ein warmes,

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