Drachentränen
Arroganz in seinem leeren Blick setzten Harry in Rage. Ganz irrationaler weise vielleicht war es diese Zunge, die obszöne rosa Spitze, die eine feuchte Spur auf den zu vollen Lippen hinterließ. Plötzlich wollte Harry ihm das Gesicht einschlagen, ihm die Lippen spalten, die Zähne rausbrechen, ihn auf die Knie zwingen, ihm seine Unverfrorenheit austreiben und eine Lektion über den Wert des Lebens und Respekt vor den Toten erteilen.
Er schnappte sich den Jungen, und bevor er selbst genau wusste, was geschah, zerrte er ihn von dem Fenster weg und quer über den Bürgersteig. Vielleicht schlug er den Kerl, vielleicht auch nicht, er glaubte eher nicht, jedenfalls ging er so unsanft mit ihm um, als hätte er ihn gerade dabei erwischt, wie er jemanden überfiel oder belästigte. Er schleuderte ihn herum, zog ihn herunter und stieß ihn mit Wucht unter dem Absperrband durch.
Der Kerl fiel unsanft auf Hände und Knie, und die Menge wich zurück, um ihm ein bisschen Platz zu machen. Er rollte sich nach Luft schnappend zur Seite und starrte wütend zu Harry hoch. Sein Haar war ihm ins Gesicht gefallen. Sein T-Shirt zerrissen. Jetzt blickten seine Augen ganz klar, und er war voll da.
Die Zuschauer murmelten aufgeregt. Die Szene im Restaurant war passive Unterhaltung gewesen; als sie ankamen, war der Mörder bereits tot. Aber dies war wirklich Action vor ihren Augen. Es war, als hätte sich der Fernsehschirm vergrößert und ihnen Zutritt gewährt, und jetzt befanden sie sich mitten in einem echten Polizeidrama mit all der Aufregung und dem Nervenkitzel, die dazugehörten. Und als Harry in ihre Gesichter sah, wusste er, dass sie auf ein abwechslungsreiches und brutales Drehbuch hofften, damit sie ihrer Familie und ihren Freunden beim Abendessen was zu erzählen hatten.
Urplötzlich widerte ihn sein eigenes Verhalten an, und er wandte sich von dem jungen Mann ab. Er ging rasch bis ans Ende des Gebäudes, das bis zur nächsten Straßenecke reichte, und schlüpfte an einer Stelle unter dem gelben Band durch, an der keine Menschen standen.
Der Dienstwagen war in der nächsten, von Bäumen gesäumten Querstraße geparkt, etwa zwei Drittel des Blocks von der Straßenecke entfernt. Jetzt wo die Schaulustigen hinter ihm und außer Sichtweite waren, fing Harry an zu zittern. Das Zittern steigerte sich zu einem heftigen Beben.
Auf halbem Weg zum Auto blieb er stehen und lehnte sich gegen einen rauen Baumstamm. Er atmete langsam tief durch.
Ein Donnerschlag erschütterte den Himmel über den Baumkronen.
Ein Phantomtänzer aus welken Blättern und Abfällen drehte sich in der Mitte der Straße in den Armen eines Wirbelwinds.
Er war zu hart mit dem jungen Mann umgegangen. Das war keine Reaktion auf das gewesen, was der Junge gemacht hatte, sondern auf alles, was im Restaurant und auf dem Dachboden passiert war. Verzögertes Stress-Syndrom.
Aber es war noch mehr. Er hatte auf etwas oder jemanden einschlagen müssen, Gott oder Mensch, aus Frust über die Sinnlosigkeit von allem, die Ungerechtigkeit, die blinde Grausamkeit des Schicksals. Wie ein grimmiger Vogel der Verzweiflung musste er immer wieder an die beiden Toten im Restaurant denken, an die Verwundeten, den Polizisten, der sich im Hoag Hospital an sein bisschen Leben klammerte, an die Pein der Ehemänner und -frauen, der Eltern, an verwaiste Kinder, trauernde Freunde, an die vielen Glieder in der furchtbaren Kette des Schmerzes, die durch jeden Tod geschmiedet wurde.
Der Junge war nur eine bequeme Zielscheibe gewesen.
Harry wusste, er sollte umkehren und sich entschuldigen, aber er konnte es nicht. Er fürchtete nicht so sehr die Konfrontation mit dem Jungen, sondern die mit der blutrünstigen Menschenmenge.
»Der kleine Scheißer konnte sowieso eine Lektion vertragen«, sagte er, um seine Handlungsweise vor sich selbst zu rechtfertigen.
Er war mit dem Jungen so umgesprungen, wie Connie es wahrscheinlich getan hätte. Jetzt hörte er sich sogar schon wie Connie an.
… man muss mit den Rhythmen der Zerstörung im Einklang sein… die Zivilisation fliegt uns um die Ohren…du musst wissen, wann du gegen eine Regel verstoßen darfst, um das System zu retten. auf jeder Welle des Wahnsinns reiten, die gerade daherkommt…
Harry war diese Haltung zuwider.
Gewalt, Wahnsinn, Neid und Hass konnten sie nicht alle verschlingen. Mitleid, Vernunft und Verständnis mussten zwangsläufig die Oberhand gewinnen. Schlechte Zeiten? Gewiss, die Menschheit hatte schon viele schlechte
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