Drachentränen
Wein wärmte ihn, reinigte ihn vorübergehend von Selbsthass und Reue und bewirkte eine Annäherung an gewisse unschuldige Gefühle und naive Erwartungen aus der Kindheit. Zwei dicke Kerzen mit Heidelbeeraroma, die er irgendwo aus dem Müll gerettet und jetzt auf einer Pastetenform befestigt hatte, erfüllten sein Refugium mit einem angenehmen Duft und einem sanften Licht, das so behaglich war wie das einer alten Tiffany-Lampe. Die engen Wände der Kiste hatten eher eine tröstende als eine beklemmende Wirkung. Das endlose Plätschern des Regens war einlullend. Bis auf die Kerzen war es vielleicht im Mutterleib so ähnlich gewesen: behaglich warm untergebracht, schwerelos im Fruchtwasser schwebend, vom sanften Plätschern des Bluts der Mutter umgeben, das durch ihre Venen und Arterien rauschte, nicht nur sorglos hinsichtlich der Zukunft, sondern sich ihrer gar nicht bewusst.
Selbst als der Rattenmann die Decke beiseite schob, die ihm als Tür über der einzigen Öffnung der Kiste diente, wurde Sammy nicht aus seiner künstlichen pränatalen Glückseligkeit herausgerissen. Tief im Innern wusste er, dass er in Schwierigkeiten war, aber er war viel zu hinüber, um Angst zu haben.
Die Kiste war knapp zwei Meter fünfzig mal zwei Meter groß, also so groß wie viele begehbare Einbauschränke. Trotz seiner bärenhaften Figur hätte sich der Rattenmann immer noch gegenüber von Sammy reinquetschen können, ohne die Kerzen umzuwerfen, doch er blieb im Eingang hocken und hielt die Decke mit einem Arm zurück.
Seine Augen waren anders als sonst. Glänzend schwarz. Ohne jegliches Weiß. Gelbe Pupillen, so groß wie Stecknadelköpfe, leuchteten in der Mitte. Wie entfernte Scheinwerfer auf dem nächtlichen Highway zur Hölle.
»Wie geht’s dir, Sammy?« fragte der Rattenmann in ungewöhnlich besorgtem Tonfall. »Du kommst gut klar, hmmmmm?«
Obwohl das Übermaß an Wein Sammy Shamroes Überlebensinstinkt so betäubt hatte, dass die Angst nicht mehr an ihn rankam, wusste er, dass er Angst haben sollte. Deshalb blieb er regungslos und aufmerksam, wie er es wahrscheinlich auch getan hätte, wenn eine Klapperschlange in seine Kiste geglitten wäre und den einzigen Ausgang versperrt hätte.
Der Rattenmann sagte: »Wollte dir nur sagen, dass ich eine Weile nicht vorbeikomme. Hab’ neue Arbeit. Hab’ mich übernommen. Muss mich zuerst um dringendere Dinge kümmern. Wenn das vorbei ist, werd’ ich erschöpft sein, einen ganzen Tag schlafen, rund um die Uhr.«
Dass er im Augenblick keine Angst hatte, bedeutete allerdings nicht, dass Sammy mutig geworden war. Er wagte nicht zu sprechen.
»Wusstest du, wie sehr mich das anstrengt, Sammy? Nein? Die Herde ausdünnen, die Lahmen und Kranken beseitigen, das ist kein Kinderspiel, das kann ich dir sagen.«
Als der Rattenmann lächelnd den Kopf schüttelte, wurden glänzende Perlen von Regenwasser aus seinem Bart geschleudert, die Sammy nass spritzten.
Selbst in der tröstenden Geborgenheit seines Weinnebels war Sammy noch genügend Klarheit geblieben, dass er sich über die plötzliche Geschwätzigkeit des Rattenmannes wunderte. Doch so erstaunlich wie der Monolog des riesigen Mannes auch war, hatte er ihn auf seltsame Weise an etwas erinnert, das er schon mal gehört hatte, vor langer Zeit an einem anderen Ort, auch wenn er nicht wusste, wo, wann oder von wem. Es waren nicht die raue Stimme oder die Worte an sich, die Sammy an den Rand eines Deja-vu-Erlebnisses brachte, sondern die Art, wie der Rattenmann seine Erklärungen vorbrachte, sein unheimlicher Ernst und sein Tonfall.
»Mit Ungeziefer wie dir zu tun zu haben«, sagte der Rattenmann, »ist anstrengend. Glaub mir. Das zehrt an den Kräften. Es wäre so viel einfacher, wenn ich jeden von euch gleich bei der ersten Begegnung erledigen könnte, euch auf der Stelle in Flammen aufgehen lassen oder eure Köpfe zum Platzen bringen könnte. Wäre das nicht schön?«
Nein. Farbenprächtig, aufregend und interessant bestimmt, aber nicht schön, dachte Sammy, obwohl seine Angst immer noch ruhte.
»Doch um mein Schicksal zu erfüllen«, sagte der Rattenmann, »um das zu werden, was ich werden soll, muss ich euch meinen Zorn zeigen, euch zittern lassen und vor mir erniedrigen, damit ihr den Sinn eurer Verdammnis versteht.«
Sammy fiel ein, wo er so etwas schon mal gehört hatte. Von einem anderen Stadtstreicher. Vielleicht vor achtzehn Monaten oder zwei Jahren oben in Los Angeles. Ein Typ namens Mike, der hatte einen Messiaskomplex,
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