Drachentränen
geworden war, dass Ricky zum Ziel werden könnte: Seit dem Brand in seiner Wohnung vor weniger als drei Stunden hatte er nur noch reagiert, nicht agiert. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Die Ereignisse hatten sich überstürzt und waren so unglaublich, eins merkwürdiger als das andere, dass er keine Zeit gehabt hatte nachzudenken. Eine schwache Entschuldigung, aber er klammerte sich daran.
Er wusste noch nicht einmal, wie er über derart merkwürdigen Scheißkram nachdenken sollte. Deduktives Denken, das nützlichste Werkzeug des Detektivs, war unzureichend, wenn es um das Übernatürliche ging. Er hatte es mit induktivem Denken versucht und war so auf die Theorie gekommen, dass es sich um einen Soziopathen mit übersinnlichen Fähigkeiten handeln könnte. Aber er war nicht gut darin, weil für ihn induktives Denken nahe an Intuition herankam, und Intuition war so unlogisch. Er liebte klare Beweise, solide Voraussetzungen, logische Folgerungen und saubere Abschlüsse, nett verpackt mit Schleife.
Als sie in Rickys Straße einbogen, sagte Connie: »Was zum Teufel ist das?«
Harry sah sie an.
Sie starrte in ihre hohle Hand.
»Was?« fragte er.
Etwas lag auf ihrer Handfläche. Mit zitternder Stimme sagte sie: »Vor einer Sekunde war es noch nicht da, wo zum Teufel kam das her?«
»Was ist das?«
Als er unter eine Straßenlaterne vor Rickys Haus fuhr, hielt sie es hoch, damit er es sehen konnte. Der Kopf einer kleinen Keramikfigur. Am Hals abgebrochen.
Mit am Bordstein scheuernden Reifen machte er eine Vollbremsung, so dass sein Sicherheitsgurt mit einem Ruck blockierte und seinen Oberkörper festhielt.
Sie sagte: »Es war, als ob meine Hand zuschnappte, krampfartig zuschnappte, und dann war das drin, aus dem Nichts, um Himmels willen.«
Harry erkannte es. Der Kopf der Jungfrau Maria, die in der Mitte des Altars auf Ricky Estefans Flurtisch gestanden hatte.
Von düsteren Ahnungen ergriffen, stieß Harry die Tür auf und stieg aus dem Auto. Er zog seine Waffe.
Die Straße war friedlich. Ein warmes Licht schien in den meisten Häusern, auch in Rickys. Musik aus der Stereoanlage eines Nachbarn schwebte so leise in der kühlen Luft, dass er die Melodie nicht erkennen konnte. Der Wind flüsterte und raschelte sanft in den Wedeln der großen Dattelpalmen in Rickys Vorgarten.
Kein Grund zur Sorge, schien die leichte Brise zu sagen, alles ist ruhig hier, mit diesem Haus ist alles in Ordnung.
Dennoch behielt er den Revolver in der Hand.
Durch die nächtlichen Schatten der Palmen lief er den kleinen Weg entlang, der zum Haus führte, auf die von Bougain Villen umrankte Veranda zu. Ihm war bewusst, dass Connie direkt hinter ihm war und dass auch sie ihre Waffe gezogen hatte.
Lass Ricky am Leben sein, dachte er inbrünstig, lass ihn bitte am Leben sein.
So nah daran zu beten war er seit vielen Jahren nicht mehr gewesen.
Hinter der Fliegentür stand die Innentür offen. Ein schmaler Lichtkeil projizierte das Muster des Gitters auf den Verandaboden.
Obwohl Ricky glaubte, dass es niemandem auffiele, und es ihm auch äußerst peinlich gewesen wäre, dass seine Angst so offenkundig war, war er, seitdem er angeschossen worden war, zwanghaft auf Sicherheit bedacht gewesen. Er hielt alles fest verschlossen. Eine Tür, die auch nur ein paar Zentimeter aufstand, war also ein schlechtes Zeichen.
Harry versuchte, die Diele durch den Spalt zwischen Tür und Türpfosten zu überblicken. Da die Fliegentür im Weg war, konnte er jedoch nicht nahe genug an den Spalt heran, um etwas zu erkennen.
Vorhänge versperrten den Blick durch die Fenster neben der Tür. Sie waren fest zugezogen und gingen in der Mitte übereinander.
Harry warf Connie einen Blick zu.
Sie deutete mit ihrem Revolver auf den Hauseingang.
Normalerweise hätten sie sich getrennt, Connie wäre um das Haus herumgegangen, um die Rückseite zu sichern, während Harry die Vorderfront übernommen hätte. Doch diesmal versuchten sie ja nicht, jemanden am Entwischen zu hindern, denn diesen Scheißkerl konnte man nicht in die Enge treiben, überwältigen und in Handschellen legen. Sie versuchten einfach nur, am Leben zu bleiben und Ricky am Leben zu erhalten, falls es für ihn nicht bereits zu spät war.
Harry nickte und öffnete behutsam die Fliegentür. Die Angeln quietschten. Die Schließfeder gab einen lang gezogenen, tiefen Ton von sich.
Er hatte gehofft, leise zu sein, doch nachdem ihm die Außentür einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, legte er
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