Drachentränen
Türeingang. Zwei weitere krochen suchend zwischen den Tisch- und Stuhlbeinen herum. Die meisten waren am anderen Ende des Raumes, eine wirre Masse sich windender Schlangenkringel, mindestens dreißig bis vierzig, vielleicht sogar noch mal die Hälfte mehr. Einige schienen irgendwas zu fressen.
Zwei weitere Taranteln krabbelten nah am Rand über eine weiß geflieste Anrichte und beobachteten wachsam die unter ihnen wimmelnden Schlangen.
»Was zum Teufel ist hier passiert?« fragte sich Harry und war keineswegs überrascht, ein Zittern in seiner Stimme zu vernehmen.
Allmählich bemerkten die Schlangen Harry und Connie. Die meisten waren desinteressiert, doch ein paar glitten neugierig über die brodelnde Masse.
Eine Schiebetür trennte die Küche vom Flur. Harry zog sie rasch zu.
Sie überprüften die Garage. Rickys Auto. Auf dem Beton war ein feuchter Fleck, wo es am Nachmittag durch das Dach getropft hatte, und eine Pfütze, die noch nicht ganz verdunstet war. Sonst nichts.
Dann kniete sich Harry endlich im Flur neben die Leiche seines Freundes. Er hatte die gefürchtete Untersuchung so lange wie möglich hinausgezögert.
Connie sagte: »Ich seh’ mal nach, ob’s im Schlafzimmer ein Telefon gibt.«
Er sah beunruhigt zu ihr hoch. »Telefon? Nein, um Gottes willen, lass das bloß!«
»Wir müssen den Mord melden.«
»Hör mal«, sagte er und sah auf seine Uhr, »es ist schon fast elf Uhr. Wenn wir das melden, sitzen wir hier stundenlang fest.«
»Aber…«
»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich habe zwar keine Ahnung, wie wir diesen Ticktack vor Sonnenaufgang finden sollen. Wir scheinen nicht die geringste Chance zu haben. Und selbst wenn wir ihn finden, weiß ich nicht, wie wir mit ihm fertig werden sollen. Doch wir wären verrückt, es nicht wenigstens zu versuchen, meinst du nicht?«
»Yeah, du hast recht. Ich will nicht mit den Händen im Schoss darauf warten, dass der mich umbringt.«
»Also gut«, sagte er. »Vergiss das mit dem Telefon.«
»Ich werd’ einfach… ich warte auf dich.«
»Pass auf die Schlangen auf«, rief er ihr durch den Flur nach.
Er wandte sich Ricky zu.
Der Zustand der Leiche war noch schlimmer, als er erwartet hatte. Er sah den Schlangenkopf, der mit den tief eingegrabenen Fangzähnen an Rickys linker Hand hing, und schauderte. Paarweise kleine Löcher im Gesicht konnten ebenfalls von Bissen stammen. Beide Arme waren an den Ellbogen nach hinten gebogen; die Knochen waren nicht nur gebrochen, sondern pulverisiert. Ricky Estefan war dermaßen übel zugerichtet, dass es schwierig war, eine Verletzung als Todesursache auszumachen. Falls er allerdings noch nicht tot gewesen war, als ihm der Kopf um 180 Grad nach hinten gedreht wurde, dann war er ganz gewiss in diesem schaurigen Moment gestorben. Sein Genick war gebrochen und der Hals zerfetzt und voller Blutergüsse, der Kopf hing lose herunter und das Kinn ruhte zwischen den Schulterblättern.
Seine Augen waren verschwunden.
»Harry?« rief Connie.
Wie er in die leeren Augenhöhlen des toten Mannes starrte, war Harry nicht in der Lage, ihr zu antworten. Sein Mund war trocken, und er brachte keinen Ton aus seiner Kehle.
»Harry, das solltest du dir besser ansehen.«
Er hatte genug davon gesehen, was man Ricky angetan hatte, zu viel. Seine Wut auf Ticktack wurde nur noch von dem Zorn auf sich selbst übertroffen.
Er stand auf, wandte sich um und sah sich selbst in dem Spiegel aus Blattsilber über dem Altartisch. Er war aschfahl. Er sah genauso tot aus wie der Mann auf dem Boden. Ein Teil von ihm war gestorben, als er die Leiche gesehen hatte; er fühlte sich beraubt.
Als sein Blick auf seine Augen traf, musste er ihn von der Panik, der Verwirrung und der primitiven Wut abwenden, die er darin sah. Der Mann im Spiegel war nicht der Harry Lyon, den er kannte - oder der er sein wollte.
»Harry?« rief sie wieder.
Connie hockte im Wohnzimmer neben dem Haufen Schlamm. Er war eigentlich nicht nass genug, um Schlamm zu sein, es waren zwei- bis dreihundert Pfund feuchte, kompakte Erde.
»Sieh dir das an, Harry.«
Sie zeigte auf etwas Unerklärliches, was ihm bei der Durchsuchung des Hauses nicht aufgefallen war. Der Haufen war größtenteils formlos, doch an einer Stelle wuchs eine menschliche Hand aus der formlosen Masse, keine wirkliche, sondern eine aus feuchter Erde gebildete. Sie war groß und kräftig und hatte stumpfe, spachtelförmige Finger, die so detailliert gestaltet waren, als stammten sie von einem großen
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