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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Farben waren, waren sie doch auch irgendwie düster; der Himmel war darin immer schwarz oder von gewaltigen dunklen Wolken aufgewühlt. Der Schlaf war wie ein kurzer Tod. Der Tod war schwarz.
    Küchen mussten jedoch weiß sein, denn in Küchen ging es um Essen und bei Essen um Sauberkeit und Energie. Energie war weiß: Elektrizität, Blitze.
    Bryan saß in einem roten Morgenrock aus Seide auf einem eierschalenfarbenen Stuhl mit weißem Lederpolster an einem weiß lackierten Tisch mit einer dicken Glasplatte. Er liebte den Morgenmantel. Er hatte noch fünf Stück davon. Die feine Seide fühlte sich gut auf der Haut an, glatt und kühl. Rot war die Farbe von Macht und Autorität: das Rot einer Kardinalssoutane, das mit Gold und Hermelin abgesetzte Rot des Königsmantels, das Rot der Drachenrobe eines kaiserlichen Mandarins.
    Wenn er es nicht vorzog, nackt zu sein, kleidete er sich zu Hause nur in Rot. Er war ein König im Verborgenen, ein heimlicher Gott.
    Wenn er hinaus in die Welt ging, dann trug er nur triste Kleidung, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Bis er Geworden war, war er zumindest geringfügig noch verletzbar, deshalb war Anonymität ratsam. Wenn sich seine Macht vollständig entwickelt hatte und er gelernt hatte, sie absolut zu beherrschen, würde er endlich in der Lage sein, sich in Kleidern hinauszuwagen, die seinem Status entsprachen, und jeder würde vor ihm niederknien, sich ehrfürchtig abwenden oder in Panik fliehen.
    Die Aussicht war erregend. Anerkannt zu werden. Bekannt zu sein und verehrt zu werden. Bald.
    An seinem weißen Küchentisch aß er Schokoladeneis in Karamellsauce, mit Maraschinokirschen überhäuft und mit Kokosnuss und zerbröselten Zuckerplätzchen bestreut. Er liebte Süßigkeiten. Salziges ebenfalls. Kartoffelchips, Käsekringel, Brezeln, Erdnüsse, Mais-Chips, frittierte Speckschwarten. Er aß nur Süßigkeiten und Salziges, sonst nichts, weil ihm niemand mehr vorschreiben konnte, was er essen sollte.
    Großmutter Drackman würde einen Schlag kriegen, wenn sie sehen könnte, wovon er sich heutzutage ernährte. Sie hatte ihn praktisch von Geburt an aufgezogen, bis er achtzehn war, und sie war unerbittlich streng mit der Ernährung gewesen. Drei Mahlzeiten am Tag, keine Snacks. Gemüse, Obst, Vollkornkost, Brot, Nudeln, Fisch, Hühnchen, kein rotes Fleisch, Magermilch, gefrorenen Yoghurt statt Eis, wenig Salz, wenig Zucker, wenig Fett, wenig Spaß.
    Selbst ihr abscheulicher Hund, ein nervöser Pudel namens Pierre, war gezwungen worden, nach Omas Regeln zu fressen, was in seinem Fall eine vegetarische Diät bedeutete. Sie glaubte, dass Hunde nur deshalb Fleisch fräßen, weil man es von ihnen erwartete, und dass das Wort »Fleischfresser« ein sinnloses Etikett sei, das von unwissenden Wissenschaftlern verwendet wurde, und dass jede Spezies - aus irgendeinem Grund Hunde ganz besonders - die Kraft hätte, sich über ihre natürlichen Bedürfnisse zu erheben und friedlicher zu leben, als sie es normalerweise tat. Das Zeug in Pierres Napf sah manchmal aus wie Granola, manchmal wie Tofuwürfel, manchmal wie Holzkohle, und das, was noch am nächsten an den Geschmack von Fleisch herankam, war die nachgemachte, mit Proteinpulver angereicherte Rinderbratensoße aus Soja, in der fast alles schwamm, was er so vorgesetzt bekam. Häufig wirkte Pierre angestrengt oder verzweifelt, als ob ihn ein Verlangen nach etwas plagte, das er nicht bestimmen und deshalb auch nicht befriedigen konnte. Deshalb war er wahrscheinlich so abscheulich und hinterlistig gewesen und hatte die Angewohnheit gehabt, aus Nervosität an den unpassendsten Orten zu pinkeln, wie zum Beispiel auf Bryans Schuhe im Wandschrank.
    Sie war ganz besessen von ihren Regeln gewesen, die Oma Drackman. Sie hatte Regeln dafür, wie man sich pflegte, kleidete, wie man lernte und sich in jeder denkbaren sozialen Situation verhielt. Ein Computer mit einer Speicherkapazität von zehn Megabyte würde nicht ausreichen, um all ihre Regeln festzuhalten.
    ‘ Pierre, der Hund, musste ebenfalls Regeln lernen. Auf welchen Stühlen er sitzen durfte und auf welchen nicht. Kein Bellen. Kein Jaulen. Mahlzeiten nach einem strengen Plan, keine Reste bei Tisch. Zweimal wöchentlich bürsten, sitz still, mach kein Theater. Sitz, roll dich, spiel toter Hund, kratz nicht an den Möbeln…
    Schon als vier- oder fünfjähriges Kind hatte Bryan auf seine Art verstanden, dass seine Großmutter so was wie eine zwangsneurotische Persönlichkeit

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