Drachentränen
anders, als du und ich denken, als der durchschnittliche Scheißkerl denkt, er passt in kein psychologisches Profil, deshalb gibt’s keine Möglichkeit, wie du oder sonst wer ihn austricksen könntet. Sieh mal, Harry, dafür bist du einfach nicht verantwortlich.«
Er schnauzte sie an, obwohl er das gar nicht wollte, er wollte ihr gewiss für nichts die Schuld geben, aber er war nicht in der Lage, seine Wut noch länger zu unterdrücken. »Das ist es doch, was heutzutage an der Welt verkehrt ist, Gott, genau das ist es! Niemand will für etwas verantwortlich sein. Jeder will das Recht, alles zu sein und verdammt noch mal alles zu tun, aber niemand will dafür bezahlen.«
»Da hast du recht.«
Offenbar meinte sie, was sie sagte, stimmte ihm zu, wollte ihm nicht bloß nach dem Mund reden, doch so leicht verrauchte seine Wut nicht.
»Heutzutage, wenn dein Leben verkorkst ist, wenn du deine Familie und deine Freunde enttäuscht hast, ist das niemals deine Schuld. Du bist Alkoholiker? Na ja, vielleicht ist das genetisch bedingt. Du bist ein chronischer Ehebrecher, du hüpfst mit hundert verschiedenen Leuten im Jahr ins Bett? Nun, vielleicht hast du dich als Kind nie geliebt gefühlt, vielleicht haben deine Eltern dir nicht genügend Zärtlichkeit gegeben. Das ist alles Scheiße.«
»Genau«, sagte sie.
»Du bläst einem Ladenbesitzer den Kopf weg oder schlägst eine alte Dame für hundert Dollar tot? Na ja, du bist kein schlechter Kerl, du hast keine Schuld. Deine Eltern sind schuld, deine Lehrer, die Gesellschaft, die ganze westliche Kultur, die sind schuld, aber nicht du, niemals du, wie taktlos, so was zu unterstellen, wie unsensibel, wie hoffnungslos altmodisch.«
»Wenn du ‘ne Sendung im Radio hättest, die würd’ ich mir jeden Tag anhören«, sagte sie.
Er überholte langsam fahrende Autos sogar, wenn er eine doppelte gelbe Linie überqueren musste. Er hatte das noch nie im Leben gemacht, selbst dann nicht, wenn er in einem Wagen mit Sirene und leuchtendem Blaulicht saß.
Er fragte sich, was in ihn gefahren war. Er fragte sich, wie er sich das fragen konnte - und trotzdem so weitermachen, wie jetzt, da er fast blind auf die Gegenspur ausscherte, um einen Wohnwagen mit einer Abbildung der Rocky Mountains auf der Seite zu überholen, obwohl der Wagen ohnehin schon die Geschwindigkeitsbegrenzurig um fünf Meilen überschritt.
Er wetterte weiter: »Du kannst deine Frau und deine Kinder im Stich lassen, ohne Unterhalt für die Kinder zu zahlen, deine Investoren um Millionen betrügen, jemandem das Hirn zu Mus schlagen, weil er schwul ist oder sich dir gegenüber respektlos verhalten hat…«
Connie stimmte ein:»… dein Baby in den Müllschlucker werfen, weil du es dir mit den Freuden der Mutterschaft anders überlegt hast…«
»… Steuern hinterziehen, das Sozialamt betrügen…«
»… Drogen an Grundschulkinder verkaufen…«
»… deine eigene Tochter missbrauchen und immer noch behaupten, du seiest das Opfer. Heutzutage ist jeder ein Opfer. Niemand ist ein Täter. Egal was für eine Scheußlichkeit du begehst, du hast ein Anrecht auf Verständnis, kannst jammern, du seiest ein Opfer von Rassismus, von umgekehrtem Rassismus, Sexismus, Diskriminierung alter Menschen, Klassenschranken, von Vorurteilen gegen dicke Leute, hässliche Leute, dumme Leute, kluge Leute. Deshalb hast du die Bank ausgeraubt oder jenen Polizisten abgeknallt, weil du ein Opfer bist, und man kann auf Millionen verschiedene Weisen ein Opfer sein. Yeah, sicher, du machst zwar die berechtigten Klagen der wirklichen Opfer zunichte, doch zum Teufel, man lebt nur einmal, da sollte man sich schon sein Stück vom Kuchen sichern, und außerdem, wen interessieren schon die wirklichen Opfer, um Himmels willen, das sind doch alles Verlierer.«
Er näherte sich rasch einem langsam fahrenden Cadillac.
Es gab zwar eine Überholspur. Doch die wurde von einem ebenso langsam fahrenden Jeep-Kombi blockiert, auf dessen Rückscheibe zwei Aufkleber prangten - ICH FAHRE MIT JESUS und STRANDE, BIKINIS UND BIER.
Auch die doppelte gelbe Linie konnte er jetzt nicht überqueren, weil plötzlich ein Strom von Fahrzeugen mit blendenden Scheinwerfern entgegenkam.
Er dachte daran, zu hupen, um damit den Caddy oder den Jeep zu schnellerem Fahren zu veranlassen, aber er hatte dazu keine Geduld.
Der Highway hatte an dieser Stelle einen ungewöhnlich breiten Seitenstreifen, und das nutzte er aus; mit kräftiger Beschleunigung verließ er die Fahrbahn und
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