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Drachenwacht: Roman (German Edition)

Drachenwacht: Roman (German Edition)

Titel: Drachenwacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Naomi Novik
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Zitternd kletterten sie auf die Pier; Kapitän Puget wurde wie ein Paket hinaufgereicht, denn er war beinahe besinnungslos vom Blutverlust. Der erst neunzehnjährige Leutnant Frye war der einzige Offizier, der noch Anweisungen geben konnte: Die übrigen Senioroffiziere waren alle tot. Völlig verunsichert sah Frye Laurence an und ließ dann den Blick schweifen. Keiner der Männer kam ihm zu Hilfe; sie alle waren erschöpft vom Rudern und von der Niederlage und schwiegen. Schließlich flüsterte Laurence dem jungen Mann zu: »Der Hafenadmiral.« Frye errötete, räusperte sich und sagte, wobei er sich an einen schlaksigen Oberfähnrich gewandt: »Sie sollten den Gefangenen jetzt besser zum Hafenadmiral bringen, Mr. Meed, und diesen entscheiden lassen, was mit ihm zu geschehen hat.«
    Zwei Marinesoldaten begleiteten Laurence und Meed entlang der Hafenstraße zum Büro des Admirals, wo ein beinahe noch größeres Durcheinander herrschte als in den letzten Augenblicken an Bord der Goliath , nachdem zwei Breitseiten ihr den Mast genommen hatten. Überall war Rauch gewesen, das Feuer hatte sich unaufhaltsam durch das Schiff in Richtung Pulverkammer gefressen, und die Kanonen waren ungehindert auf den Decks hin und her gerollt. Hier jedoch waren die Flure erfüllt von wildesten Spekulationen: »Fünfhunderttausend Mann sind an Land gegangen«, behauptete ein Mann, was schon vom gesunden Menschenverstand her eine absurde Zahl war und nur einem Anfall von Panik geschuldet sein konnte. »Sie
haben bereits London erreicht«, verkündete ein anderer, »und sie haben Schiffe im Wert von zehn Millionen an sich gebracht.« Lediglich diese letzte Zahl schien plausibel. Wenn Bonaparte ein oder zwei Häfen entlang der Themse eingenommen und die Händler dort festgesetzt hatte, dann dürfte ihm tatsächlich eine ähnliche Summe wie die genannte in die Hände gefallen sein: eine enorme Prise, die die Invasion, die gerade erst begonnen hatte, vorantreiben würde wie Kohlen, die man in einen brennenden Ofen schaufelte.
    »Es interessiert mich nicht, ob Sie ihn nach draußen bringen und ihm die Kehle durchschneiden, solange Sie ihn mir nur aus den Augen schaffen«, tobte der Hafenadmiral, als sich Meed endlich den Weg durch die Menge zu ihm gebahnt hatte und um Befehle bat. Vor den Fenstern war beträchtliches Grollen zu hören wie Wind, der sich zu einem Sturm zusammenbraut, obwohl die Nacht klar war. Weitere Befehlssuchende drängten sich rücksichtslos an ihnen vorbei, sodass Laurence Meed am Arm packen und sich dort festklammern musste, während sie von der Menge mitgerissen wurden. Der Junge mochte kaum vierzehn Jahre alt sein und war ein wenig unterernährt.
    Sie wurden immer weiter fortgeschoben, und Meed wirkte hilflos. Laurence fragte sich, ob er sich selbst ein Gefängnis suchen und sich eigenhändig einsperren sollte, aber in diesem Augenblick drängte sich ein junger Leutnant durch die Massen auf sie zu, warf Laurence einen Blick tiefster Verachtung zu und fragte an Meed gewandt: »Das ist der Verräter, nicht wahr? Hier lang, und ihr zwei verfluchten Hunde haltet ihn gut fest, ehe er in der Menge untertauchen kann.«
    Er griff nach einem Stock, der noch auf dem Flur herumlag, wo er vermutlich bei einer Zwangsaushebung vergessen worden war. Diesen schwang er vor sich hin und her, um ihnen so den Weg hinaus auf die Straße zu bahnen. Dankbar trottete Meed ihm hinterher. Der Leutnant brachte sie zu einer alten, heruntergekommenen Gefangenenwohnung, zwei Straßen entfernt, mit Gittern vor den Fenstern und einem angeketteten Mastiff auf dem öden Hof. Sein unglückliches Jaulen verschmolz mit dem Lärm des aufgebrachten, beinahe
außer Kontrolle geratenen Mobs. Nach einem Klopfen an der Tür trat der Herr des Hauses heraus, der sich mit Händen und Füßen gegen die Unterbringung wehrte. Der Leutnant wischte alle Einwände beiseite, doch schließlich wurde es ihm zu bunt, und er schob Laurence einfach hinein.
    »So, das ist mehr, als Sie verdienen«, sagte er schroff zu Laurence, nachdem er ihn und die anderen nach oben zu einem kleinen, quadratischen Dachboden geführt und ihm die Tür geöffnet hatte. Er war ein schmaler, junger Mann mit einem beeindruckenden Schnurrbart, und ein kräftiger Stoß hätte ihn auf den rauen Fußboden befördert. Laurence sah ihn einen Augenblick lang an, bückte sich dann aber unter dem Türsturz hindurch und trat ein. Hinter ihm wurde der Durchgang verschlossen. Durch die Wand hindurch hörte er,

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