Drachenwacht: Roman (German Edition)
hinzugrübeln. Die Stadt brannte, und er konnte nichts tun, als hier mit ihr zu vergehen oder zu schmoren, bis die Franzosen ihn gefangen nehmen würden, wo doch Napoleons Armee kaum zehn Meilen entfernt war. Und selbst wenn er stürbe, Temeraire würde es nie erfahren. Seinetwegen würde er grundlos in Gefangenschaft verharren, nur um schließlich ebenfalls den Franzosen in die Hände zu fallen. Laurence glaubte nicht daran, dass Napoleon für die Sicherheit Temeraires sorgen würde; nicht, solange Lien seine Verbündete war. Ihre Stimme würde jeden Anflug von Erbarmen übertönen. Aus ureigenem Interesse heraus würde sie Napoleon ins Ohr flüstern, er solle der einzige Herr über einen Himmelsdrachen außerhalb Chinas Grenzen bleiben.
Notfalls, so dachte Laurence, könnte er die Wachen überzeugen, ihn gehen zu lassen, indem er sie bei ihrem eigenen Wunsch, fliehen zu können, zu packen bekam. Wenn er doch nur selber daran glauben
könnte, dass er jeden Grund zu einem solchen Vorhaben hatte. Doch er hatte vor einem Kriegsgericht gestanden und war verurteilt worden, und zwar völlig zu Recht, wie ihm der langwierige Rechtsprozess vor Augen geführt hatte, auch wenn er ihn liebend gern verkürzt hätte: das endlose Ausbreiten von Beweisen, obwohl er sich bereits schuldig bekannt hatte; die Reihe der zuhörenden Offiziere, deren Gesichter ausdruckslos, wenn nicht gar vor Abscheu verzerrt waren. Sie alle waren Marineoffiziere, kein einziger Flieger hatte sich unter ihnen befunden. Viel zu viele seiner Kameraden waren in die schlimme Geschichte hineingezogen und jedes nur denkbaren Vergehens beschuldigt worden. Ferris war angeklagt worden, weil man davon ausging, dass sich Laurence seinem Ersten Offizier anvertraut hatte. Während Ferris niedergeschlagen und bleich dagesessen und Laurence’ Blick gemieden hatte, hatte der Strafverfolger mit einem verächtlichen Schnauben verkündet: »Es muss dem Gericht seltsam erscheinen, dass er eine Stunde verstreichen ließ, ehe er Alarm schlug, weil der Beschuldigte und sein Tier verschwunden waren, und dass er nicht unverzüglich den zurückgelassenen Brief öffnete …«
Auch Chenery wurde aufgerufen, und zwar einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass er sich zum fraglichen Zeitpunkt auf dem Stützpunkt in London befunden hatte. Berkley, Little und Sutton wurden aufgefordert, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Dass Harcourt und Jane nicht vorgeladen worden waren, lag – da war sich Laurence sicher – ausschließlich an der Tatsache, dass die Admiralität nicht wusste, wie sie das bewerkstelligen sollte, ohne sich selbst mehr als die beiden in Verlegenheit zu bringen. »Ich ahnte nichts von dieser verdammten Angelegenheit, und ich bin mir sicher, auch sonst wusste niemand Bescheid. Jeder, der Laurence kennt, wird Ihnen bestätigen, dass er keinem gegenüber auch nur die leiseste Andeutung gemacht hat«, hatte Chenery trotzig gesagt, »aber ich muss schon sagen, dass es über alle Maßen niederträchtig von der Admiralität war, das kranke Tier zurückzuschicken, und falls Sie mich für diese Worte hängen wollen, so tun Sie sich keinen Zwang an.«
Gott sei Dank hatten sie Chenery nicht gehängt, weil sie zu wenig Beweise gegen ihn in der Hand hatten und sein Tier gebraucht wurde. Ferris jedoch hatte als Leutnant keinen solchen Schutzschild und war aus dem Dienst entlassen worden. Alle Anstrengungen, die Laurence unternommen hatte, um zu betonen, dass es einzig und allein seine Schuld war, waren auf taube Ohren gestoßen. Und so war ein prächtiger Offizier für den Dienst verloren und sein Leben und seine Karriere verwirkt. Laurence hatte Ferris’ Mutter und seine Brüder kennengelernt. Sein Erster Offizier entstammte einer alten, stolzen Familie, und seit seinem siebenten Lebensjahr lebte er schon nicht mehr zu Hause. So verfügte seine Familie nicht über einen vertraulichen Einblick in seinen Charakter, der sie von seiner Unschuld überzeugt und ihm ihre liebevolle Unterstützung eingebracht hätte, die ihm nun von seinen Offizierskollegen versagt wurde. Sein Elend zu sehen und zu wissen, dass er, Laurence, selbst dafür verantwortlich zeichnete, schmerzte Laurence mehr als seine eigene Verurteilung.
An dieser hatte es nie irgendeinen Zweifel gegeben. Es gab nichts, was er zu seiner Verteidigung hätte vorbringen können, und als Trost blieb ihm nur die nüchterne Gewissheit, dass er das Richtige getan hatte, ja dass er gar nicht anders hätte handeln
Weitere Kostenlose Bücher