Drachenwacht: Roman (German Edition)
können. Tatsächlich aber war dies kein Trost, doch es schützte ihn vor schmerzvoller Reue. Er konnte nicht mit seiner Tat hadern. Er hätte es nicht zulassen können, dass Zehntausende von Drachen, die meisten davon überhaupt nicht am Kriegsgeschehen beteiligt, umgebracht würden, um seiner eigenen Nation einen Vorteil zu verschaffen. Als er ebendies aussagte und freimütig zugab, dass er sich Anweisungen widersetzt, einen Marinesoldaten angegriffen und das Heilmittel entwendet hatte, um dem Feind Hilfe und Unterstützung zu gewähren, gab es nichts mehr hinzuzufügen. Den einzigen Vorwurf, den er zurückwies, war der, er habe auch Temeraire gestohlen. »Er ist weder im Besitz des Königs noch ein dummes Tier, und er hat seine Entscheidung eigenmächtig und aus freien Stücken getroffen«, hatte Laurence gesagt, doch man war natürlich darüber hinweggegangen. Man hatte
ihn kaum aus dem Raum geführt, als er schon wieder hineingerufen wurde, um zu hören, wie sein Todesurteil ausgesprochen wurde.
Und dann war die Vollstreckung stillschweigend verschoben worden. Rasch war er, schwer bewacht, aus dem Gerichtssaal gezerrt und in eine schwarzverhängte Kutsche, in der er kaum atmen konnte, verfrachtet worden. Die lange Reise, von der er nichts mitbekam, endete in Sheerness, wo Laurence an Bord der Lucinda gebracht und zur Goliath geschafft und unter Arrest gesetzt wurde; man brachte ihn in ein Verlies, in dem er kaum Luft bekam, geschweige denn sonst etwas tun konnte. Er war ein lebender Toter, und das, was in Zukunft vor ihm lag, war schlimmer, als am Galgen zu hängen. Wenn er nichts unternahm oder den Franzosen in die Hände fiel, dann würden sie ihn von einem aufrecht stehenden Sarg in den nächsten stecken, das wusste Laurence nur allzu gut.
Aber die Entscheidung lag nicht bei ihm. Er hatte einmal seine Wahl getroffen und damit alle anderen Brücken abgebrochen. Sein Leben gehörte ihm nicht mehr, selbst wenn das Gericht es ihm noch eine Weile lassen würde. Jetzt zu fliehen wäre auch nicht besser, als es ein Versuch gewesen wäre, nach China zu entkommen oder auf Napoleons Werben einzugehen und sein Angebot anzunehmen, in Frankreich zu bleiben. Er konnte nicht flüchten. Nur so konnte er sich selbst bestätigen, dass er kein Verräter war, und nur so konnte er Wiedergutmachung leisten. Er konnte die Tür seines Kerkers zwar betrachten, sie aber nicht öffnen.
Ein kurzer Regenschauer ging vor dem Fenster nieder und verdünnte den Rauch draußen. Laurence trat an die Öffnung, obwohl er nichts als das trübe Grau der Dämmerung sehen konnte. Falls die Sonne überhaupt schon aufgegangen war, so blieb sie verborgen; Laurence hatte es eher im Gefühl, dass der Tag angebrochen war, als dass er sich dessen sicher sein konnte.
Nach einem Rütteln am Knauf öffnete sich die Tür. Laurence drehte sich um und starrte den Mann an, der ihm nun gegenüberstand:
Sein Gesicht war vertraut, aber unerwartet schmal und wettergegerbt, und es hatte orientalische Züge. »Ich hoffe, ich finde Sie bei guter Gesundheit vor«, sagte Tharkay. »Kommen Sie mit? Die Feuergefahr ist noch immer nicht gebannt.«
Die Wachen waren verschwunden und das Haus vollkommen verlassen, wenn man von einigen Männern absah, die betrunken von der Straße hereingetorkelt waren und nun in der Eingangshalle schliefen. Laurence machte einen Schritt über ihre Beine hinweg und trat hinaus in den Morgen. Ein dünner Rauchschleier und ein trügerischer Schein lagen über dem Hafen und trieben hinaus aufs Meer. Glas, zerbrochene Dachziegel und verbranntes Holz lagen überall auf der Straße herum, ebenso wie Unmengen Schutt. Einige Straßenkehrer standen mitten auf der Straße und schwangen niedergeschlagen ihre Besen, ohne irgendetwas zu bewirken.
Tharkay führte Laurence durch eine Seitengasse, wo der Kadaver eines toten Pferdes im Weg lag, das man von Sattel und Zaumzeug befreit hatte. Ein junger Turmfalke mit langen, flatternden Fußriemen hockte neben dem Gaul, riss immer wieder am Fleisch des toten Tieres und stieß einen zufriedenen Schrei aus. Tharkay streckte seine Hand aus und pfiff, woraufhin der Falke zu ihm zurückgeflogen kam, um sich seine Haube überstreifen und sich an Tharkays Schulter sichern zu lassen.
»Ich bin seit drei Wochen zurück aus dem Pamirgebirge«, sagte Tharkay. »Ich habe ein weiteres Dutzend Wildtiere für Ihre Einheiten mitgebracht. Ein guter Zeitpunkt, wie mir scheint. Roland schickt mich, Sie zu
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