Drachenwacht: Roman (German Edition)
Angebot, und Laurence schämte sich, dass er in Versuchung geriet. Er spürte so große Versuchung, dass er nicht sofort ablehnen konnte in Anbetracht der Freiheit, die nun offen vor ihm lag, und des stechenden Geruchs von Rauch und engen Schiffskielräumen im Rachen, wo er ihn noch immer schmecken konnte.
»Meine Auffassung des Dienstes ist nicht die Ihre«, fuhr Tharkay fort. »Aber ich weiß nicht, warum Sie es irgendeinem Menschen schuldig sein sollten, ohne jeden Sinn zu sterben.«
»Die Ehre reicht als Grund«, sagte Laurence leise.
»Nun gut«, erwiderte Tharkay, »wenn Ihr Tod Ihre Ehre denn besser verteidigt als Ihr Leben … Aber die Welt dreht sich nicht einzig um England und Napoleon, und Sie müssen sich nicht zwischen dem einen und dem anderen entscheiden oder sterben. Sie und Temeraire würden in anderen Teilen der Welt willkommen geheißen werden. Wie Sie sich vielleicht erinnern mögen«, fügte er trocken hinzu, »gibt es etwas Ähnliches wie Zivilisation auch an anderen Orten der Welt, außerhalb der Grenzen Großbritanniens.«
»Ich …« Laurence kämpfte mit sich selbst. »Ich werde nicht so tun, als ob ich nicht darüber nachgedacht hätte – wenn schon nicht um meiner selbst, so doch um Temeraires willen. Aber mit einer Flucht würde ich mich tatsächlich zum Verräter machen.«
»Laurence«, setzte Tharkay nach einer Weile erneut an, »Sie sind ein Verräter.« Es war ein Schlag, ihn in seiner kühlen, unumwundenen Art diese Worte aussprechen zu hören, und der Mangel an Leidenschaft in seinen Worten führte lediglich dazu, dass es weniger wie eine Anklage als wie die Feststellung einer Tatsache klang. »Zuzulassen,
dass sie Sie dafür zum Tode verurteilen, mag eine Form der Sühne sein, aber es macht Sie nicht weniger schuldig.«
Laurence wusste nichts darauf zu erwidern; natürlich hatte Tharkay recht. Es machte keinen Sinn zu betonen, dass er sein Land liebte und es nur in extremis verraten hatte, um das geringere von zwei entsetzlichen Übeln zu wählen. Er hatte es verraten, und der Grund spielte überhaupt keine Rolle. Und nun sah es so aus, als habe er Temeraire zu einem einsamen Dienst verurteilt und sich selbst zu lebenslanger Haft. Vielleicht war alles, was verloren werden konnte, verloren worden. Und doch … Und doch … Er konnte nicht antworten.
Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander. Schließlich schüttelte Tharkay den Kopf und legte Laurence die Hand auf die Schulter. »Es wird langsam dunkel.«
»Ja, ich habe nach ihm geschickt«, sagte Jane trocken. »Und Sie können sich Ihre Verdächtigungen sparen. Wenn ich so dringend einen Mann zwischen meinen Schenkeln spüren müsste, dann gibt es einen ganzen Stützpunkt voller junger, hübscher Burschen da draußen, und ich wage zu behaupten, dass ich einen finden würde, der mir zu Willen wäre, sodass ich mir diesen ganzen Ärger ersparen könnte.«
Damit hatte sie ihre Zuhörerschaft aus Generälen und Ministern so vor den Kopf gestoßen, dass sie einen Moment lang Ruhe gaben und sie fortfahren konnte, ohne gegen das allgemeine Gemurmel anreden zu müssen. »Wenn die Franzosen ihn gefangen nähmen, dann hätten sie schon zwei Himmelsdrachen, und auch wenn die beiden zu eng miteinander verwandt sind, als dass man sie zur direkten gemeinsamen Züchtung verwenden könnte, so könnte man sie sich doch für Kreuzungen zunutze machen, vielleicht mit einem Grand Chevalier, falls Sie sich das vorstellen wollen. Die Nachkommen könnte man dann wieder zurückzüchten, um die Eigenschaften zu festigen. In nur einer Generation hätten sie ihre eigene Rasse, und wir stünden mit leeren Händen da. Wir verfügen bislang nicht einmal
über ein einziges Ei von Temeraire. Setzen Sie Laurence in einen Gefängniswagen, und schaffen Sie ihn unter Bewachung, wenn Sie darauf bestehen, zu Temeraire. Und wenn Sie auch nur über einen Funken Verstand verfügen, dann werden Sie Verwendung für ihn und sein Tier finden.«
Die Atmosphäre im Zelt der Generäle war alles andere als heiter. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um die Katastrophe der Invasion und kehrte immer wieder dorthin zurück. Laurence hatte bereits genug gehört, um zu begreifen: Jane war doch nicht das Kommando über die Luftwaffe übertragen worden. Man hatte über ihren Kopf hinweg Sanderson zum Admiral in Dover gemacht.
Laurence wunderte sich nicht. Man hatte Jane nie gerne als Befehlshaberin gesehen und war lediglich durch Notwendigkeit dazu
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