Drachenwege
diente dazu, die Feier zu organisieren. Du hast dich lediglich verhalten wie ein guter Famulus.«
»Was ist ein Famulus?«, erkundigte sich Kindan, der den Begriff noch nie gehört hatte.
»Ein Assistent, ein Gehilfe. Zum Beispiel ist Swanee zuständig für das Vorratslager, aber er arbeitet für Natalon. Ein Schichtleiter ist die Hilfskraft des Obersteigers. Unter einem Famulus versteht man jemanden, der von seinem Vorgesetzten eine Aufgabe übertragen bekommt, und sich gelegentlich auf dessen Autorität beruft, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.«
Meister Zist dachte kurz nach und fuhr fort: »Hättest du zu Natalon gesagt, ich würde ihn darum bitten, einen Kuchen zu backen, wäre das eine glatte Lüge gewesen, denn du hättest deine Befugnis missbraucht. Ein Famulus bewegt sich entlang einer feinen Linie, die die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit markiert.
Manchmal muss er raten, was sein Vorgesetzter will, und das ist nicht immer einfach.« Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und furchte drohend die Stirn über den buschigen Augenbrauen. »Mein Gehilfe sollte sich davor hüten, meine Wünsche falsch zu inter-pretieren.«
Kindan atmete erleichtert auf. »Und wie war das, als Jenella ihr Baby bekam? Du hast mich nicht darum gebeten, für Nuellas Anwesenheit zu sorgen, und wir haben Margit und Milla getäuscht. Wenn das keine Lüge ist, dann haben wir die Wahrheit aber gewaltig gebeugt.«
»Hier lagen die Dinge anders«, erläuterte Meister Zist. »Im Übrigen hast du deine Sache sehr gut gemacht. Lügen und Geheimnisse sind eng miteinander verwandt, Kindan. Geheimnisse ziehen oftmals die Unwahrheit nach sich. Weil Natalon Nuella vor den anderen Campbewohnern versteckt halten will - aus Gründen, die ich dir nicht erklären darf -, musstest du zu einer Täuschung greifen.«
»Wenn Geheimnisse etwas Schlechtes sind, warum üben sich dann so viele Leute in Heimlichtuerei?«, fragte Kindan.
»Manchmal ist ein Geheimnis das Einzige, was einem Menschen ganz allein gehört«, antwortete Meister Zist und seufzte.
»Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die Geschichte mit Nuella noch lange geheim bleiben wird«, gab Kindan zu bedenken. »Zenor und ich wissen, dass es sie gibt, und wir wohnen noch nicht mal ein ganzes Jahr in diesem Camp.«
Der Harfner nickte. »Genau das habe ich Natalon auch gesagt. Aber er hat seine Gründe, Nuella zu verstecken.«
»Weil sie ein Mädchen ist, oder weil sie blind ist?«, wollte Kindan wissen. Seit dem Tag, als er Natalon und seine Familie vor dem Tod durch Ersticken gerettet hatte, wusste er, dass Nuella nicht sehen konnte. Doch er war sich nicht sicher, ob Natalon sie deshalb vor der Öffentlichkeit verbarg.
Der Harfner schmunzelte. »Das hast du geschickt an-gestellt, Kindan. Du stellst mir eine Fangfrage, in der Hoffnung, ich würde das Geheimnis verraten. Aber so schnell führst du mich nicht aufs Glatteis, dazu bin ich viel zu lange als Harfner tätig.«
Nach einer kleinen Pause sprach er weiter. »Du musst ein guter Beobachter sein, wenn du Nuellas Zustand so schnell erkannt hast. Doch du weißt sicher auch, dass du als mein Lehrling zu Stillschweigen verpflichtet bist.«
»Ich hätte es schon viel früher bemerkt, wenn ich Nuella in einer anderen Situation begegnet wäre«, gab Kindan zu. »Da ich sie zum ersten Mal traf, als die Händler hier waren, nahm ich an, sie gehörte zu ihnen.«
Meister Zist nickte und fuhr dann mit seiner Belehrung fort. »Wir sprachen über Geheimnisse. In einem Camp wie diesem kennt jeder jeden, und die Besitztü-mer der einzelnen Menschen unterscheiden sich nicht sehr voneinander. Gewiss, in manchen Familien gibt es Erbstücke oder ein paar besondere Gegenstände, aber grundsätzlich hat einer nicht mehr als der andere. Vielleicht liegt es daran, dass manche Leute ihre ganz privaten Geheimnisse hüten wie einen kostbaren Schatz.
Oder sie möchten irgend etwas geheim halten, weil sie die Reaktion ihrer Mitmenschen fürchten, falls es he-
rauskäme.«
Meister Zist deutete ein Lächeln an und fügte in komplizenhaftem Ton hinzu: »In den meisten Fällen interessiert sich die Umwelt kein bisschen für die Geheimnisse anderer Leute. Doch wie ich schon sagte, wenn jemand sonst nichts sein Eigen nennt, dann fühlt er sich als etwas Besonders, wenn er Heimlichkeiten hat. Deshalb ist es die Pflicht eines Harfners, die Geheimnisse anderer Leute zu respektieren.« Kindan entging nicht, welchen Nachdruck Meister Zist auf
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