Drachenwege
behalten.«
»Ich kann auch dicht halten«, sagte Kindan eifrig.
Der Harfner hob mahnend den Zeigefinger. »Das ist
gut so. Doch nicht jeder schafft es, seine Neugier zu zü-
geln und nicht zu versuchen, die Geheimnisse anderer Menschen zu lüften. Und falls man dahinterkommt, dass irgendjemand ein Geheimnis hütet, darf man ihn um
keinen Preis verraten. Meinst du, das schaffst du auch?
Anderen Leuten ihre Geheimnisse zu lassen?«
Kindan setzte eine zweifelnde Miene auf.
»Wir werden ja sehen«, meinte Zist. »Vorerst erwarte ich von dir, dass du nie wieder versuchst, Gespräche zu belauschen, die ich in meinem Arbeitszimmer oder in irgendeinem anderen Raum dieses Hauses führe. Wenn du etwas hörst, worüber du mit mir reden möchtest, kommst du damit zu mir, und wir unterhalten uns. Ich werde entscheiden, ob es ein Geheimnis ist oder nicht.
Bist du mit diesem Vorschlag einverstanden?«
Kindan nickte.
»Du bist ein braver Junge.« Meister Zist schluckte den letzten Bissen des Gebäcks herunter, sah, dass Kindan seinen Nachtisch auch aufgegessen hatte und stand vom Tisch auf. »Spül bitte das Geschirr ab und geh früh zu Bett. Du hattest einen anstrengenden Tag.
Morgen beginnen wir dann mit deinem Unterricht.«
»Was für ein Unterricht?«, wiederholte Kindan entgeistert.
»Du wirst schon sehen«, beschied ihn der Harfner.
»Schließlich hast du noch eine Menge zu lernen, was über den allgemeinen Schulstoff hinausgeht.« Er deutete in die Richtung seines Arbeitszimmers. »Harfner
machen sich auch Notizen. Und Jofri hat mir seine
Aufzeichnungen überlassen. Darin steht, dass ein bestimmter Sohn des Bergmanns Danil nicht nur eine gute Singstimme hat, sondern sich auch für den Beruf des Harfners interessiert.«
Erstaunt riss Kindan die Augen auf. »Das hat Jofri geschrieben?«
Meister Zist nickte in feierlichem Ernst, doch seine Augen blinzelten fröhlich. »Allerdings«, bestätigte er.
»Und nun begib dich hurtig an die Arbeit, und dann ab mit dir ins Bett.«
*
Sein neues Leben kam Kindan viel anstrengender vor als seine alte Existenz. Alles war irgendwie anders, dachte er traurig. Er schob immer noch Wache auf der Bergkuppe, die sich mehrere hundert Meter über dem Eingang zur Grube befand, und von der aus man einen herrlichen Ausblick über das Tal hatte. Obschon die meisten Leute immer nur von ihrem »Tal« sprachen, waren Kindan und Meister Zist dazu übergegangen,
diese Senke als »Natalons Tal« zu bezeichnen.
Doch eine bedeutende Veränderung hatte es gegeben.
Jetzt war Kindan nicht nur einer von vielen jungen Burschen, die den Aussichtsposten besetzt hielten, sondern er fungierte als Aufsichtsperson, dem alle anderen Jugendlichen, die zum Wachdienst abkommandiert wurden, unterstanden. Wären Jakris oder Tofir im Camp geblieben, wäre ihnen diese Aufgabe zugefallen. Und zu seinem gelinden Schreck musste Kindan feststellen, dass er mittlerweile der älteste Junge im Camp war, der nicht im Pütt arbeitete.
Als Kindan von seinem erhöhten Beobachtungspunkt
aus Zenor zum ersten Mal in seinem Grubenzeug* sah, das früher seinem Vater gehört und passend für ihn zurecht geschneidert worden war, empfand er eine
seltsame Mischung aus Scham, Respekt und Kummer.
Scham, weil er nicht selbst unter Tage ging; Respekt, weil sein bester Freund Zenor die Arbeit eines erwachsenen Mannes verrichtete; und Kummer, weil Zenors neue Tätigkeit ihn immer wieder an das Unglück erinnerte, das nicht nur viele Menschenleben gekostet, sondern auch die Kindheit seines Freundes jählings beendet hatte.
Doch bald merkte Kindan, dass die vielen Pflichten, die man ihm aufbürdete, ihm nicht viel Zeit ließen, seinen traurigen Erinnerungen nachzuhängen. Er wusste nicht, ob man ihn mit Absicht so viel beschäftigte, um ihn von seinem Verlust abzulenken, oder ob man im Camp seine Arbeitskraft wirklich so nötig brauchte.
Wenn er sich davon überzeugt hatte, dass der Zeitplan für die Wachen eingehalten wurde und Kuriere bereit standen, um eventuelle Eilmeldungen in alle Himmels-richtungen zu übermitteln, musste er eine Gruppe von Kindern beaufsichtigen. Diese Jungen und Mädchen, zwischen neun und zehn Planetenumläufen alt, halfen dabei, die Äste von den Bäumen zu entfernen, die die Erwachsenen tags zuvor gefällt hatten.
Zenors Mutter, Norla, betätigte sich derweil als Kin-dergärtnerin, wobei ihr ihre Erfahrung mit ihrer eigenen Nachkommenschaft zugute kam. Ehe die Frauen des Camps zur Feldarbeit
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