Drachenwege
meine Mutter. Sis hält große Stücke auf mich. Mein Vater auch. Und mir haben sie erzählt, meine Mutter hätte mich gewollt. Bevor sie starb, sagte sie, ich sei ein kostbares Geschenk. Es hätte sich gelohnt, mich auf die Welt zu bringen. Und sie wusste ganz genau, dass meine Geburt sie das Leben kosten konnte. Aber für mich ging sie das Risiko ein.« Tränen strömten über sein Gesicht, doch das war ihm einerlei.
»Sis und mein Vater müssen es ja wissen, was meine Mutter zuletzt sagte. Sie waren bei meiner Geburt und bei Mutters Tod dabei.«
Meister Zist war sichtlich erschüttert. »Diese Stimme«, murmelte er vor sich hin. »Du hast tatsächlich ihre Stimme.« Als er den Blick hob, sah Kindan, dass auch in seinen Augen Tränen schimmerten. »Es tut mir Leid, Junge. Ich hätte niemals sagen dürfen ... ich hatte nicht das Recht ... Könntest du das Lied bitte noch einmal singen? Deine Stimme hat denselben lyrischen Klang wie die Stimme deiner Mutter.«
Kindan wischte sich die Tränen aus den Augen und schöpfte Atem, doch vor Groll und Kummer war seine Kehle wie zugeschnürt. Meister Zist gab ihm einen Wink, er solle sich nicht weiter bemühen und ging in die Küche des Häuschens. Mit einer Tasse heißen Tees kam er zurück.
»Trink das, das wird deinem Hals gut tun«, sagte er in sanftem, freundlichem Ton. Während Kindan an dem Tee nippte, fuhr Meister Zist fort: »Ich habe zuviel von dir verlangt, Junge. Noch nie zuvor habe ich einen Schüler so hart angefasst. Ich sehe ein, dass das verkehrt war. Es ist nur - ich möchte, dass dieser Tag für deine Schwester und deinen Vater ein unvergessliches Erlebnis wird. Für sie ist das Beste gerade gut genug.«
»Das finde ich auch«, pflichtete Kindan ihm bei.
Meister Zist nickte. »Das sehe ich, Junge. Ich habe gemerkt, wie bestrebt du bist, deiner Familie alle Ehre zu machen.« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Ich schlage vor, wir fangen wieder mit dem Üben an und versuchen gemeinsam, das Bestmögliche aus deiner Stimme herauszuholen. Einverstanden?«
Kindan stellte die Tasse ab und legte schüchtern seine schmale Hand in die große Pranke des Meisterharfners.
»Ich werde mich bemühen«, versprach er.
»Mehr verlange ich nicht von dir«, entgegnete Meister Zist. »Doch ich glaube, auf das Ergebnis unserer Arbeit werden wir beide stolz sein.« Er schaute kurz aus dem Fenster. »Viel Zeit bleibt uns nicht mehr, also sollten wir uns auf unsere Aufgabe konzentrieren, nicht wahr?«
Kindan nickte zum Einverständnis, doch seine Miene verriet Besorgnis. Meister Zist lächelte ihn aufmunternd an. »Was hältst du davon, wenn wir statt des Hochzeitschorals, in dem du das Solo singen solltest, das Lied vom Drachen am Morgenhimmel vortragen?«
Verdutzt riss Kindan die Augen auf. »Vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, wenn Dask durch das Tal fliegt?«, fragte er begeistert. »Das passte doch ideal.«
»Der Wachwher kann fliegen?«, wunderte sich Zist.
Kindan bestätigte es.
»Sind alle Wachwhere flugfähig?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Kindan wahrheits-gemäß. »Aber es heißt doch, sie stammten von den Feuerechsen ab, so wie die Drachen.«
»Über Wachwhere ist nicht viel bekannt«, erklärte Meister Zist. »Außer dass sie kein helles Licht vertragen. Manche Leute meinen, es läge an ihren übergroßen Augen, während andere behaupten, sie seien von Natur aus Tiere der Nacht. Und ihre Schwingen sehen so verkümmert aus, dass man ihnen nicht zutraut, den schweren Leib in der Luft halten zu können.«
»Ich habe Dask nur spätnachts fliegen sehen«, erzählte Kindan. »Mein Vater sagt, in der Nacht verdich-tet sich die Atmosphäre, und die Luftschicht über dem Boden würde dicker.«
Meister Zist nickte. »Das stimmt. Die Drachenreiter haben dieselbe Erfahrung gemacht. Sie behaupten, des Nachts sei es gefährlich, in großer Höhe zu fliegen -weil dort die Luft dünner wird. Vielleicht sind die Wachwhere an das nächtliche Fliegen angepasst - und ihre Schwingen sind kleiner, weil sie in der dichteren Luft damit besser zurechtkommen.«
Kindan zuckte die Achseln. Derweil nahm Meister Zist sich vor, in der Harfnerhalle mehr Informationen zu diesem Thema einzuholen.
»Im Übrigen finde ich deine Idee ausgezeichnet«, lobte er Kindan. »Die Leute werden nicht schlecht staunen, wenn du dein Lied vorträgst, während Dask über ihre Köpfe hinwegfliegt. Bist du bereit, mit dem Proben weiterzumachen?«
»Ich bin bereit, Meister Zist.«
* *
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