Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
vor inniger Wonne seufzen, und die Knie wurden mir weich. Wenn es das Nirwana gibt, dachte ich in jenem fernen
Winkel meines Hirns, der noch denken konnte, dann muss es dies hier sein. Ich wünschte mir, es würde nie zu Ende gehen.
Da entfernten sich seine Lippen unvermittelt von meinem Hals. »Genug«, sagte er leise.
Ich jammerte vor Enttäuschung. Er hielt mich fest umschlungen. Mir war schwindlig und ganz leicht im Kopf. Hätte er mich losgelassen,
so glaube ich, wäre ich ihn Ohnmacht gesunken. Plötzlich war mir sehr, sehr kalt. Seine Berührung dagegen fühlte sich nun
seltsam warm an.
Plötzlich flüsterte er: »Sie sind hier.«
Ich hatte keine Ahnung, wen oder was er damit meinte. Ich hörte nichts, nur das hämmernde Pochen meines Herzens.
»Morgen Abend komme ich wieder«, flüsterte er und presste ein letztes Mal seine Lippen auf die meinen. Dann trat er einen
Schritt zurück und verschwand in einem Nebelhauch, dem ich mit ungläubigem Staunen nachsah, wie er sich durch die Fensterritzen
verzog.
Ausgelaugt und ermattet sank ich zu Boden. Mein Herz schlug noch immer wild, aber ich war zu schwach, um mich zu rühren. Nur
verschwommen drangen die Stimmen der Männer zu mir durch, die von ihrer Suche heimkehrten. Meine Arme waren schwer wie Blei.
Mit äußerster Mühe hob ich die Hand zum Hals und spürte die frischen Wundmale dort.
|286| Plötzlich überkamen mich Schuldgefühle. Oh, was hatte ich nur getan? Wie konnte ich Herrn Wagner – nein, nein, dem Grafen
Dracula – erlauben, mich zu küssen und mein Blut zu trinken? Es war schon schlimm genug, dass ich an ihn gedacht und von ihm
geträumt hatte, mich nach ihm gesehnt hatte, als ich ihn noch für Herrn Wagner, einen Mann aus Fleisch und Blut, hielt. Aber
dass ich mich einem hingegeben hatte, der ein Untoter war, ein Vampir, ein Wesen, das ich zu hassen gelernt hatte – das war
undenkbar!
Und doch … und doch …
In meinen Armen hatte sich Dracula so warm, so wirklich und so lebendig angefühlt wie jeder andere Mann. In seiner Umarmung
hatten mich die wunderbarsten Empfindungen durchflutet, die ich je erlebt hatte. Und obwohl ich wusste, wer oder was er war
… und trotz all der furchtbaren Dinge, die ich von ihm wusste … liebte ich ihn.
War es möglich, von einem Mann gleichzeitig heftig angezogen und abgestoßen zu werden? Hatte Jonathan, fragte ich mich, etwas
Ähnliches für die schrecklichen Vampirfrauen in Draculas Burg empfunden? Und was war mit meiner Mutter? Hatte sie dasselbe
Gefühl gehabt, als sie sich so bereitwillig dem jungen Herren im Hause Sterling hingab?
Ich hörte Schritte auf der Treppe. Ich zwang mich, vom Boden aufzustehen. Benommen sank ich ins Bett, band mir das Nachthemd
am Hals zu und zog mir gerade die Bettdecke unter das Kinn hoch, als ich hörte, wie die Tür zu meinem Zimmer geöffnet wurde.
Ich stellte mich schlafend, versuchte mit aller Willenskraft, mein pochendes Herz und meinen Atem zu beruhigen, während ich
lauschte, wie sich Jonathan leise auszog und neben mir ins Bett schlüpfte. Mir war angst und bange, dass er auch nur das Geringste
von dem ahnen würde, was gerade geschehen war.
Oh, was um alles in der Welt sollte ich jetzt machen?
Dr. van Helsing und Jonathan hatten beide behauptet, Graf Dracula sei ein bösartiges, gewissenloses Wesen, das nur eine |287| Absicht hegte: jedem Menschen, den er traf, übel mitzuspielen. Stimmte das wirklich? Wie sollte ich diese Berichte von dem
Ungeheuer, das sie beschrieben, mit dem Mann in Einklang bringen, den ich in Whitby kennen und lieben gelernt hatte, und mit
dem Mann, der mir gerade so glühend und leidenschaftlich seine Liebe erklärt hatte?
Ich sehnte mich danach, den anderen all das mitzuteilen, was Dracula zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte. Aber wie sollte
ich das bewerkstelligen? Dazu hätte ich ja auch alles andere eingestehen müssen, bis zurück zu der Zeit, die wir in Whitby
miteinander verbracht hatten. Ich müsste enthüllen, dass wir heute Nacht in meinem Schlafzimmer miteinander gesprochen hatten.
Und Jonathan würde sicherlich entdecken, dass ich gebissen worden war. Zweifellos würden sie alle sofort zu der Schlussfolgerung
gelangen, dass ich sowohl geistig als auch körperlich vergiftet war, sodass ich mit dem Feind zusammenarbeitete – was ja vielleicht
sogar der Wahrheit entsprach. Wenn ich vorgab, gegen meinen Willen angegriffen worden zu sein, dann fürchtete ich, dies
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