Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
anzusehen.«
Der Künstler bedankte sich mit einem Lächeln und einem Kopfnicken für dieses Kompliment. Just in diesem Augenblick bemerkte
ich meine verloren geglaubte Hutnadel, die neben der Bank, auf der ich gesessen hatte, im Kies lag. Ich hob sie rasch auf
und hielt inne, um meinen Hut wieder festzustecken.
»Gehören diese ebenfalls Ihnen?«, erkundigte sich der Herr und bezog sich damit auf mein Buch und mein Tagebuch, die wenige
Schritte entfernt auf dem Spazierweg lagen.
»Ja, das sind auch meine.«
Er sammelte sie ein. Als er mein Tagebuch vom Staub des Weges befreite, fiel sein Blick auf die aufgeschlagene Seite und die
Schlaufen, Kringel und anderen seltsamen Zeichen, die dort standen. Es war mir ein wenig peinlich, dass das Auge eines Fremden
in mein privates Tagebuch schaute, doch gleichzeitig war ich erleichtert, meine Eintragungen auf so ungewöhnliche Weise gemacht
zu haben.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er, »wenn ich zu neugierig erscheine, aber ist dieser Text in einer neuen Art von Kurzschrift verfasst,
vielmehr in … Ich glaube, Sie nennen es Stenographie?«
»Das stimmt«, antwortete ich und war überrascht, dass er mit dieser abgekürzten Symbolschrift vertraut war.
»Ein faszinierendes System, nicht wahr, so alt wie die Steine der Akropolis aus dem antiken Griechenland. Es erlaubt einem,
mit größerer Geschwindigkeit und Kürze zu schreiben, so rasch wie die Menschen sprechen.«
»Ja, und gleichzeitig erreicht man damit völlige Geheimhaltung, |49| denn es macht das Geschriebene für die meisten anderen Menschen unleserlich, eine ideale Methode für Eintragungen in einem
Tagebuch.«
Er lächelte. »Ich bin mit einer Reihe von Methoden dieser Art vertraut, aber diese hier erkenne ich nicht.«
»Man nennt sie Greggs Kurzschrift. Sie wurde vor zwei Jahren herausgebracht und wird noch nicht weithin verwendet. Ich habe
sie erst kürzlich erlernt, um in der Lage zu sein …« Ich zögerte. Wenn ich meinen Gedanken zu Ende führen würde, so würde
das alles diese angenehme Konversation plötzlich beenden, die ich doch so gern fortsetzen wollte. Aber ich konnte die Wahrheit
nicht verschweigen. Er hatte das Recht, sogleich zu erfahren, dass ich einem anderen versprochen war. »Ich habe stenographieren
gelernt«, fuhr ich fort, »um meinem Verlobten bei seiner Arbeit beistehen zu können. Er ist Anwalt, müssen Sie wissen. Ich
hoffe, dass ich aufzeichnen kann, was er diktiert, um es dann für ihn auf der Schreibmaschine zu schreiben.«
Bei diesem Geständnis verblasste das Lächeln des Herren ein wenig, doch er fand seine Souveränität rasch wieder und meinte:
»So können Sie also auch geschickt mit einer Schreibmaschine umgehen, nicht nur stenographieren? Das sind sehr ungewöhnliche
Fertigkeiten. Ihr Verlobter kann sich glücklich schätzen, eine derart gebildete und schöne Gefährtin gefunden zu haben. Wirklich!«
Mir stieg die Röte in die Wangen, nicht nur wegen seiner lobenden Worte, sondern wegen der Bewunderung, die aus seinen Augen
strahlte, während er sprach. »Ich danke Ihnen, Sir, aber ich habe das Gefühl, selbst die Glückliche zu sein. Jonathan ist
ein guter Mann.«
Dazu enthielt er sich jeglichen Kommentars, sondern blieb nur stehen und schaute sich um. Dann sagte er: »Er ist nicht mit
Ihnen hier in Whitby, nehme ich an, da Sie doch erklärt haben, dass Sie mit einer Freundin und deren Mutter hergereist sind?«
|50| »Er befindet sich auf einer Geschäftsreise im Ausland und ist noch nicht zurückgekehrt.«
»Ich verstehe. Und inzwischen haben Sie keinerlei zeitliche Verpflichtungen?« Ehe ich etwas antworten konnte, fügte er hinzu:
»Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, die Gegend näher zu erkunden. Die Ruine der Abteikirche sieht außerordentlich interessant
aus. Würden Sie mir die Ehre erweisen, mich auf einem Rundgang über das Gelände zu begleiten?«
Als er zu mir herabschaute, begann mein Herz wild zu pochen. An diesem Mann, an seinen Augen war etwas, das mich so sehr in
den Bann schlug, dass ich es kaum über mich brachte, meinen Blick von ihm loszureißen. Ich konnte es nicht leugnen: Ich fühlte
mich heftig zu ihm hingezogen, und genauso schien er sich zu mir hingezogen zu fühlen. Oh!, dachte ich, diese neu entdeckten
Gefühle, die da in meinem Inneren tobten – wenn sie auch zweifellos erregend waren –, waren doch unrecht, wirklich und wahrhaftig
sehr unrecht.
Er muss mir meine Gedanken vom
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