Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Er verdient es, die Wahrheit zu erfahren
. Aber zu meiner Verzweiflung wurde mir plötzlich klar, dass ich es nicht über mich bringen würde. Dann wäre alles verloren.
Dann würde es zum Krieg kommen, in dem einer der geliebten Männer sicherlich sterben müsste, wenn nicht gar beide. Ich verbannte
meine Schuldgefühle in einen kleinen Winkel meines Herzens und war entschlossen, sie dort zu lassen und mich stattdessen auf
das Hier und Jetzt zu konzentrieren und Jonathans Gesellschaft und diesen Tag zu genießen.
Als wir in die Hauptstraße des Dörfchens kamen, stieg uns der Duft von gebratenem Fisch, der vom Royal Hotel herüberwehte,
verführerisch in die Nase. Wir sahen uns außerstande, dieser Werbung für »Weltberühmte Fischmahlzeiten« zu widerstehen. Man
wies uns einen gemütlichen Tisch am Kamin zu, wo wir den besten Fisch mit Pommes frites genossen, den wir beide je gegessen
hatten.
»Ich hätte dir niemals erlauben dürfen, nach London zu kommen«, sagte Jonathan beim Essen. »Ich wusste ja, dass dieses Ungeheuer
hier war.«
»Du konntest doch nicht ahnen, was geschehen würde. Ich bin froh, dass ich hier bin.«
»Wie kannst du darüber froh sein?«
»Wäre ich in Exeter geblieben, so wäre ich wie gelähmt vor |380| Angst um dich. So sind wir zumindest zusammen, und ich kann versuchen, mich nützlich zu machen. Doch es gibt noch einen anderen
Grund. Da ist noch etwas, das ich dir schon seit einigen Tagen sagen will. Aber es hat sich keine Gelegenheit dazu ergeben.
Ich habe meine Mutter und meinen Vater gefunden.«
Jonathan starrte mich erstaunt an. »Du hast sie gefunden? Wann? Wie?«
Ich berichtete ihm von meinem Ausflug nach London an jenem ersten Tag in der Stadt, von allem, was ich gesehen und erfahren
hatte – mit der einen Ausnahme, dass ich den Mann nicht erwähnte, der mich begleitet hatte.
»Nun, das setzt doch allem die Krone auf!«, meinte Jonathan mit einem Lachen, als ich meine Erzählung beendet hatte. »Was
für ein außerordentliches, interessantes Erbe. Du hast ja immer behauptet, von königlichem Geblüt zu sein, Mina. Anscheinend
bist du der Wahrheit sehr nahegekommen, denn du bist die Tochter eines Lords. Hast du vor, dich mit ihm in Verbindung zu setzen?«
»Nein. Das bloße Wissen darum, wer ich bin und woher ich komme, hat so viele Fragen beantwortet, dass ich ganz zufrieden bin.«
»Es ist eine Schande, dass deine Mutter und dein Vater nicht heiraten durften. Und es ist sehr traurig, dass deine Mutter
gestorben ist. Es wäre wunderbar gewesen, sie kennenlernen zu dürfen.«
»Sie zu kennen, sie in meinem Leben zu begrüßen, das wäre mir eine Freude jenseits aller Freuden gewesen.«
»Du hast eine Zigeunerin zur Mutter! Denk doch nur! Ich frage mich, aus welcher Familie sie stammte.«
»Ich nehme an, das werde ich nie erfahren.«
»Kein Wunder, dass du so viel träumst, Mina, und oft Dinge erahnst, ehe sie geschehen.«
»Es erklärt einiges, nicht wahr?«
Wir lachten beide. Während ich mir die Hände an der Serviette |381| abwischte, fiel mein Blick auf meinen goldenen Ehering. Meine Gedanken wurden in eine völlig andere Richtung gelenkt. »Jonathan,
woher hattest du das Geld für meinen Ehering?«
»Erinnerst du dich, dass ich dir von dem Goldschatz erzählt habe, den ich in Draculas Burg gefunden habe? Ich habe ein paar
Münzen davon mitgenommen. Nach allem, was er mir angetan hatte, fand ich, dass sie mir zustanden.«
»Das hatte ich mir beinahe gedacht.« Ich nickte und überlegte, welche Ironie des Schicksals darin lag, dass Dracula unwissentlich
den Ring finanziert hatte, der mich mit dem Mann verbunden hatte, den er als seinen Rivalen so verachtete.
»Wann immer ich an unsere Hochzeit zurückdenke«, sagte Jonathan, »schäme ich mich schrecklich. Ich war ein Wrack, kaum in
der Lage, auch nur einen Finger zu heben. Du warst so tapfer, hast dich nie beklagt. Weißt du, ich bin nach wie vor entschlossen,
wenn all dies vorüber ist und du nicht …« Seine Augen wanderten wieder zu meiner Stirn, und er fuhr mit fester Stimme fort:
»Wenn unser Leben wieder uns gehört, dann feiern wir eine richtige Hochzeit in einer richtigen Kirche, mit Brautjungfern und
Blumen und Musik und mit allem, was du dir nur wünschen kannst.«
»Ich habe alles, was ich mir nur wünschen kann, hier vor mir«, versicherte ich ihm. »Mit einer großen Hochzeit macht man doch
nur anderen Leuten Vergnügen. Wir haben keine Familie und
Weitere Kostenlose Bücher