Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
aus diesem gottverfluchten Hafen
aus, Hölle und Teufel, ehe der Gezeitenwechsel eintritt.«
Schon bald kroch ein dünner Nebel vom Fluss herauf, der sich immer mehr zusammenballte, bis eine graue Wand die
Zarin Katharina
völlig einhüllte. Es wurde klar, dass das Schiff unmöglich zur beabsichtigten Zeit auslaufen konnte. Das Wasser stieg und
stieg; der Kapitän war aufgebracht. Als die Flut ihren Höchststand erreicht hatte, kam der Mann in Schwarz das Laufbrett hinaufgeschritten,
überbrachte Dokumente, die bestimmten, dass die Kiste in Varna gelöscht und einem dortigen Agenten übergeben werden sollte.
Nachdem der Mann eine Weile an Deck gestanden hatte, verschwand er. Sogleich löste sich der Nebel auf, und das Schiff setzte
mit auslaufendem Gezeitenstrom die Segel.
Ich musste über Nicolaes Taktik lächeln. Er hatte in jeder nur erdenklichen Weise die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Er
hatte einen Hut getragen, der nicht zur Jahreszeit passte. Er hatte vor den Augen der Dockarbeiter einen lautstarken Streit
mit dem Kapitän angezettelt. Er hatte eigenhändig eine Kiste gestemmt, die viel zu schwer für die Arme eines einzigen Menschen
war. Und er hatte den Nebel heraufbeschworen, der die Abfahrt des Schiffs so dramatisch verzögerte. So hatte er dafür gesorgt,
dass man seine »Abreise« bemerkte und sich bestens daran erinnerte.
»Und nun, meine liebe Frau Mina«, schloss Dr. van Helsing, »können wir uns alle eine Weile ausruhen. Unser Feind liegt in
seiner Kiste und ist auf hoher See. Wenn wir uns an seine Verfolgung machen, reisen wir über Land. Das geht viel schneller,
und wenn das Schiff im Hafen von Varna einläuft, erwarten wir ihn dort schon.«
|385| »Sind Sie sicher, dass der Graf an Bord des Schiffes ist?«, erkundigte sich Jonathan.
»Niemals würde er seine einzige verbleibende Kiste mit Erde verlassen«, antwortete der Professor. »Wir haben sogar noch einen
besseren Beweis, nämlich die Aussage, die Ihre liebe Frau heute Morgen in der hypnotischen Trance gemacht hat.«
»Nun da man ihn aus England vertrieben hat«, warf ich erneut ein, »wird der Graf aus diesem Misserfolg keine Lehren ziehen?
Wird er dieses Land nicht meiden wie der Tiger das Dorf, in dem man Jagd auf ihn gemacht hat?«
»Aha!«, erwiderte mir Dr. van Helsing. »Ihr Beispiel mit dem Tiger ist gut. Ich werde es übernehmen. Ein Tiger, der schon
einmal Menschenblut gekostet hat, schaut keine andere Beute mehr an. Er streift nur mehr, von der Begierde nach jenem getrieben,
umher. Das Ungeheuer, das wir jetzt aus unserem Dorf gehetzt haben, ist auch ein Tiger. Bedenken Sie seine Geschichte! Zu
seinen Lebzeiten war Dracula ein Herrscher und Krieger, überschritt die türkische Grenze und griff den Feind auf dessen eigenem
Grund und Boden an. Immer und immer wieder wurde er geschlagen, doch er war hartnäckig und ausdauernd und kehrte stets zurück.
Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte lang hat er sich darauf vorbereitet, nach London umzuziehen, in diese Stadt, die ihm so
Großes zu verheißen schien. Lasst es euch sagen: Heute haben wir ihn vielleicht vertrieben, aber er kehrt gewiss zurück!«
»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, beharrte ich, »und es scheint mir auch nicht notwendig, dass wir ihn jetzt verfolgen.«
»Nicht notwendig?«, rief Dr. van Helsing aus. »Nicht notwendig? Aber es ist außerordentlich notwendig, dass wir ihm folgen!
Denken Sie an all die Menschen, die dieses Ungeheuer sonst noch töten wird, sogar in seinem eigenen Land! Und er hat Sie infiziert,
liebe Frau Mina, dass Sie nach Ihrem Tod werden wie er. Das darf nicht geschehen!«
»Und was ist, wenn Sie sich irren? Sie haben gesagt, Herr |386| Professor, dass ich, obwohl ich Graf Draculas Blut getrunken habe, doch mein Leben in Frieden weiterleben kann. Erst wenn
ich sterbe, werden wir wissen, ob ich eine Gefahr für mich und für die Menschheit darstelle. Das stimmt doch?«
»Das ist richtig, ja.«
»Warum lassen wir dann nicht einfach mein Leben seinen Lauf nehmen? Und wenn ich tatsächlich, wie Sie befürchten, ein Vampir
werde, könnten Sie mit mir verfahren wie mit Lucy.«
Die Männer schauten mich entsetzt an. »Sie bitten uns, auf Ihren Tod zu warten und dann Ihr Grab zu schänden?«, rief Dr. Seward.
»Ihr Herz zu durchbohren und Ihnen den Kopf abzutrennen?«
»Wenn das notwendig ist, um meine Seele zu erlösen, ja. Aber es ist ja gar nicht notwendig.«
»Niemals!«,
Weitere Kostenlose Bücher