Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
und Ulmen aus dem Park ein. Die Färbung der Laubbäume schlug schon um, der alljährliche
Übergang von Grün zu dramatischen Rot- und Goldtönen hatte begonnen. Tief stand die Nachmittagssonne am dunstigen Himmel.
Die Luft war noch angenehm warm und vom Gesang der Vögel erfüllt. In der Ferne hörte man Schafe blöken. Ich gestattete mir
einige Minuten lang, zu vergessen, warum ich hergekommen war, und genoss einfach nur das Vergnügen, wieder auf dem Land zu
sein.
|213| Sobald ich die Straße erreicht hatte, fiel mir ein, dass Dr. Sewards Anwesen unmittelbar an den Landsitz angrenzte, der nun
dem Grafen Dracula gehörte. Dr. Seward hatte mir aus der Kutsche heraus das Haus gezeigt, als wir bei meiner Ankunft dort
vorbeifuhren.
Mein Herz begann erregt zu pochen. Sollte ich es wagen, das Grundstück zu erkunden? Der Doktor hatte mir gesagt, dass nebenan
noch niemand eingezogen war. Aber was war, wenn er sich irrte? Meine Neugierde auf diesen Ort war so groß, dass ich meine
Ängste hintanstellte und die Straße hinuntereilte, um mir die große Steinmauer näher anzusehen, die das Nachbargrundstück
völlig zu umschließen schien. Sie war mindestens zehn Fuß hoch und wurde von einem sehr alten, rostigen Eisentor unterbrochen,
das mit Kette und Schloss zugesperrt war. Enttäuscht begriff ich, dass mir jegliche weitere Erkundung unmöglich sein würde.
Ich schaute durch die eisernen Gitterstäbe des Tores. Das Anwesen sah genauso aus, wie Jonathan es beschrieben hatte. Eine
lange, von Unkraut überwucherte Einfahrt führte durch ein weites Gelände, das dicht mit Bäumen bewachsen war. Auf der einen
Seite konnte ich durch das Laub hindurch einen Teich ausmachen; dahinter war das Haus zu erkennen. Es hatte vier Stockwerke
und war sehr groß und alt. Deutlich war zu sehen, dass im Laufe der Jahre Anbauten in den verschiedensten Baustilen hinzugefügt
worden waren. Ein Teil schien gar aus dem späten Mittelalter zu stammen. Er war aus ungeheuer dicken Steinblöcken errichtet
und hatte mit massiven Stangen vergitterte Fenster.
Insgesamt wirkte das Anwesen vernachlässigt und verlassen. Die Wäldchen, die es umsäumten, waren gespenstisch still. Falls
der Graf hier seinen Wohnsitz genommen hatte, gab es dafür keinerlei Anzeichen.
Trotz alledem hatte ich, während ich vor dem Tor stand und hineinschaute, das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden – ein
Gefühl, das ich seit jenem Morgen vor beinahe |214| zwei Monaten nach dem großen Sturm in Whitby nicht mehr verspürt hatte. Mein Herz vollführte einen Sprung, als meine Blicke
wie durch einen Zauber zu einem der Fenster im oberen Geschoss des uralten Gebäudes gezogen wurden. Stand dort jemand oder
war es ein Schatten? Ein kaltes Schaudern durchlief mich. Dann musste ich über meine Narrheit lachen. Es war gewiss nur die
wässrige Sonne des Spätnachmittags, die Lichtkringel auf die schmutzigen Scheiben malte.
Ich wandte mich von dem alten Anwesen ab und spazierte über die schmale Allee zur Hauptstraße. Fünfzehn Minuten später hatte
ich den Ortskern von Purfleet erreicht. Da Dr. Seward und ich vom Bahnhof geradewegs zu seinem Haus gefahren waren, hatte
ich nur einen flüchtigen Blick auf das hübsche Dörfchen an der Themse und auf die Kreidefelsen in der Ferne werfen können.
Nun sah ich, dass es ein sehr idyllischer Ort war, ein Dörfchen mit einigen wenigen verstreuten Häuserreihen, mehreren kleinen
Geschäften und einem Royal Hotel, das »Weltberühmte Fischgerichte« anpries. Ansonsten war nichts von großem Interesse zu erspähen,
das mich längere Zeit beschäftigt hätte.
Als ich mich dem Bahnhof näherte, überholte ich eine junge Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand führte. Aus ihrem Gespräch
wurde klar, dass es sich um Mutter und Tochter handelte und dass sie sehr vertraut miteinander waren. Neid ergriff mich bei
diesem Anblick. Meine Gedanken wanderten zu dem Brief meiner Mutter Anna, den ich inzwischen beinahe auswendig hersagen konnte.
»Ich habe deinen Vater geliebt. Er hieß Cuthbert. Ich glaube, er hat mich wirklich eine Zeitlang ebenso geliebt. Ich war damals
Hausmädchen in Marlborough Gardens, Belgravia. Die beiden Jahre dort waren die glücklichsten meines Lebens …«
Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff, und ein Zug hielt am Bahnsteig. Ich sah, dass er nach London weiterfuhr. Es war keine
lange Reise. Bis zum Abendessen hatte ich noch mehrere Stunden Zeit. Mir
Weitere Kostenlose Bücher