Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
er hinzu: »Paris, das ist die alte Welt. London ist durch und durch
modern, der große, vor Leben pulsierende Mittelpunkt der Welt.«
|220| Es war früher Abend, als unsere Droschke in Marlborough Gardens ankam, und inzwischen war es ziemlich dunkel geworden. Plötzlich
kam ich mir sehr töricht vor, dass ich kurz vor Einbruch der Nacht allein nach London gefahren war. Ich war dankbar, Herrn
Wagner als Begleiter zu haben.
»Wie wunderschön«, murmelte ich, während wir die schmale, baumbestandene Straße hinuntergingen, die zu beiden Seiten von langen
Reihen hoher, weißer, aristokratisch wirkender Häuser gesäumt war. Alle Gebäude sahen gleich aus: sie hatten fünf Stockwerke,
und vor den mit kunstvoll verzierten Gesimsen und edlen Säulen umgebenen Fenstern prangten Altane.
»Denken Sie nur«, sagte ich voller Staunen, »meine Mutter ist Hunderte, vielleicht Tausende von Malen genau diese Straße entlanggelaufen.
Sie hat in einem dieser Häuser gelebt. Vielleicht hat sie genau vor dieser Türschwelle gefegt. Oh! Wie ich mir wünsche, ich
hätte sie gekannt!«
»Vielleicht können Sie hier etwas über sie erfahren.«
»Wie denn?«
»Sie kennen ihren Namen und den Familiennamen Ihres Vaters. Wir könnten Erkundungen einziehen, ob sich jemand an die beiden
erinnert.«
»O nein! Mir würde es nie im Leben auch nur in den Sinn kommen, hier jemanden zu stören. Höchstwahrscheinlich könnte mir ohnehin
niemand weiterhelfen. Mein Vater kann alle möglichen Berufe gehabt haben, vom Kutscher bis zum Postboten, und meine Mutter
war ein Hausmädchen, das nur zwei Jahre hier gelebt hat, und das vor über zweiundzwanzig Jahren.«
»Ja, aber wenn man die Umstände ihres Fortgehens bedenkt ….«
Wärme überzog meine Wangen. »Sie meinen den Skandal?«
»So würde ich das nicht nennen, Frau Harker. Allerdings glaube ich, dass sich die Menschen im Allgemeinen an derlei Dinge
erinnern und gern darüber reden.«
»Was soll ich denn sagen?«, antwortete ich mit einem beschämten Lachen. »Dass ich nach einem Hausmädchen namens |221| Anna suche, das seine Arbeitsstelle verlassen musste, weil es guter Hoffnung war?«
»Genau.«
»Auf gar keinen Fall! Ich würde vor Scham vergehen.« Ich machte kehrt und ging mit raschen Schritten zurück in die Richtung,
aus der wir gekommen waren. »Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben, die Straße zu finden, Sir. Ich freue mich, dass ich
sie einmal gesehen habe. Ich bin es sehr zufrieden. Nun lassen Sie uns gehen.«
»Warten Sie! Ihr Leben lang haben Sie sich gefragt, wer Ihre Mutter gewesen sein mag«, sagte Herr Wagner, während er sich
bemühte, mit mir Schritt zu halten. Sein Gesicht war vom Abendschein erhellt. »Und heute sind Sie den ganzen Weg hierhergefahren.
Nun ist für Sie die Gelegenheit gekommen, Ihre Neugierde zu befriedigen. Es wäre doch schade, wenn Sie wieder gehen würden,
ohne zumindest einen Versuch unternommen zu haben.«
Immer noch peinlich berührt, verlangsamte ich meine Schritte. Doch eine innere Stimme flüsterte mir zu, dass Herr Wagner recht
hatte.
»Wovor fürchten Sie sich?«, beharrte er.
»Ich fürchte mich davor«, brach es aus mir hervor, »dass die Menschen, wenn sie sich überhaupt noch an meine Mutter erinnern,
auf mich herabsehen werden, weil ich ihre Tochter bin.«
Herr Wagner berührte meinen Arm und brachte mich zum Stehen. »Falls die Leute das tun, dann ist das ihre Sache. Ihre Mutter
hat Sie geliebt und getan, was sie für das Beste für Sie hielt. Darauf sollten Sie stolz sein. Aber Sie müssen ja nicht sagen,
dass Sie ihre Tochter sind, sondern lediglich, dass Sie Nachrichten über sie suchen.«
Plötzlich schämte ich mich meiner Schwäche und meines Unbehagens. »Sie haben einmal gesagt, ich sollte mich nicht so sehr
darum kümmern, was andere Menschen von mir denken. Sie sagten ›schlagen Sie alle Vorsicht in den Wind‹. Doch das ist leichter
gesagt als getan.«
|222| »Nichts, was wirklich etwas wert ist, ist leicht.«
Ich lächelte, atmete tief durch und nahm all meinen Mut zusammen. »Wo sollten wir anfangen?«
Erst war es wie ein Spiel. Wir blieben bei dem Haus stehen, das unmittelbar vor uns war, und klopften an die Tür. Das Hausmädchen,
das die Tür öffnete, war noch jünger als ich und wusste nichts von irgendwelchen Bediensteten, die vor mehr als zwei Jahrzehnten
in der Nachbarschaft gearbeitet hatten. Bei den anderen Häusern erging es uns nicht besser.
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