Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
noch andere Reisende im Abteil saßen, berichtete ich Dr. Seward nur flüsternd von Jonathans kurzfristig anberaumter Reise
nach Whitby. Er |208| nickte, sagte aber nichts dazu. Er schien nach wie vor sehr zerstreut, und auch die Ängstlichkeit, die ich bei meiner Ankunft
an ihm bemerkt hatte, war noch nicht von ihm gewichen. Ich fragte mich, was ihn so beschäftigte und wie ich am besten sein
Vertrauen gewinnen könnte.
»Ich habe mir sagen lassen, dass Sie es waren, Dr. Seward, der Dr. van Helsing nach London gerufen hat, um Lucy zu behandeln?«
»Ja.«
»Dafür muss ich Ihnen meinen Dank aussprechen, denn er scheint ein Mann von scharfem Verstand zu sein. Wenn überhaupt jemand
diesen schrecklichen Grafen Dracula finden und vernichten kann, dann ist er es.«
»Das hoffe ich.«
»Haben Sie das Anwesen gesehen, das Jonathan im Namen des Grafen erworben hat?«
»Wir haben es nur flüchtig erkundet. Es scheint nicht, als lebte gegenwärtig jemand dort.«
»Ich habe die gestrige Ausgabe der
Westminster Gazette
nicht gelesen. Wurde die rätselhafte Dame erneut auf der Heide von Hampstead gesichtet?«
Dr. Sewards Gesicht wurde aschfahl. Er warf einen flüchtigen Blick auf die anderen Passagiere im Abteil, senkte seine Stimme
und sagte unruhig: »Ich glaube, wir verschieben diese Diskussion besser auf einen späteren Zeitpunkt, Frau Harker.«
Ich verstummte und schaute in höchster Besorgnis aus dem Fenster. Waren meine Ängste und Vermutungen, was Lucy anging, doch
wahr? Hatte sie sich aus ihrem Grabe erhoben? War seit meinem letzten Gespräch mit Dr. van Helsing ein weiteres grausiges
Ereignis eingetreten? Und wenn ja, welches?
Kurz drauf erreichten wir Dr. Sewards Haus, das in einem wunderschönen, weitläufigen Park lag. Es war sehr groß – drei Stockwerke
hoch –, aus dunkelroten Backsteinen erbaut und hatte einen großen neuen Flügel aus hellen Backsteinen. Wäre |209| nicht das diskrete Schild ASYL PURFLEET am Vordereingang gewesen, so hätte ich niemals vermutet, dass es sich hier um etwas
anderes als den Landsitz eines höchst respektablen Gentleman handelte.
Als wir jedoch über die Schwelle in die Marmorhalle traten, vernahm ich ein seltsames, leises Stöhnen, das von irgendwo hinten
auf einem Korridor kam und auf das ein gespenstisches Lachen folgte. Sollte ich derlei nun Tag für Tag hören, während ich
unter diesem Dach weilte?, überlegte ich und erschauderte.
Falls Dr. Seward mein Schaudern aufgefallen war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er sagte nur: »Haben Sie Hunger,
Frau Harker? Darf ich Ihnen etwas zu essen kommen lassen?«
»Nein, danke. Ich habe bereits im Zug gespeist. Ich bin außerordentlich begierig darauf, mit Ihnen über unsere dringende Angelegenheit
zu sprechen und mich an die Arbeit zu machen, falls ich in irgendeiner Weise behilflich sein kann.«
»In diesem Falle bitte ich meine Haushälterin, Sie unverzüglich in Ihre Zimmer zu geleiten. Kommen Sie doch bitte in mein
Arbeitszimmer, sobald Sie sich häuslich eingerichtet haben.«
Ich wurde in ein sehr schönes Schlafzimmer im ersten Stock geführt, wo man mein Gepäck bereits abgestellt hatte. Ich brauchte
nur wenige Augenblicke, um etwas Toilette zu machen, und ging dann hinunter zu Dr. Sewards Arbeitszimmer, das man mir zuvor
gezeigt hatte. Als ich mich der Tür näherte, hörte ich ihn drinnen mit jemandem sprechen. Ich blieb einen Augenblick stehen.
Da er mich aber erwartete, klopfte ich schließlich an. Das Gespräch brach ab, und ich hörte ihn sagen: »Herein.«
Ich trat ein. Es war ein sehr großes Zimmer, in dem Bücherregale drei Wände einnahmen und das so eingerichtet war, dass es
bequemer Salon und Arbeitszimmer zugleich war, sich aber auch als Konferenzraum eignete. Auf einer Seite stand ein Sofa mit
einigen Tischchen und Sesseln, im |210| Mittelpunkt des Raumes ein langer Tisch mit Stühlen und an der anderen Seite ein recht großer Schreibtisch, an dem Dr. Seward
saß. Zu meinem größten Erstaunen war er allein.
Plötzlich verstand ich, mit wem – oder sollte ich lieber sagen mit was? – er gesprochen hatte. Auf einem Tisch ihm gegenüber
stand eine nagelneue Maschine, ein ziemlich großer Holzkasten mit einer Reihe von Metallvorrichtungen im oberen Teil. Eine
davon war eine horizontale, walzenförmige Konstruktion, die einen Wachszylinder hielt, der, wie ich wusste, dazu diente, das
gesprochene Wort aufzuzeichnen und wiederzugeben, so
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