Dracula, my love
Professor muss als Zeuge dabei sein. Du musst ihn dorthin bringen.
Mein Puls setzte einen Schlag aus. Ich blickte unter der Plane hervor auf den Professor, der unweit von mir auf einem Baumstamm saß und seine Winchesterbüchse putzte. Wohin?
Geht etwa eine Meile durch den Wald. Ich werde dich führen. Dann kommst du auf eine Straße. Der folge noch etwa eine halbe Meile in östliche Richtung. An der Flanke eines Hügels findest du einen hervorragenden Aussichtspunkt, der einen Blick auf ein Stück der Straße bietet.
„Frau Mina, sind Sie wach?“
Ich kroch unter der Plane hervor. „Ja, Herr Professor.“
„Sie haben so friedlich geschlafen, dass ich Sie nicht wecken wollte. Ich habe Kaffee zubereitet, und hier sind Brot und Käse. Möchten Sie etwas davon?“
Der Geruch des Kaffees bereitete mir Übelkeit, und der Gedanke daran, etwas zu essen, war mir so zuwider, dass ich mich nicht dazu überwinden konnte, wie gern ich ihm auch den Gefallen getan hätte. „Nein, danke“, antwortete ich, und er runzelte die Stirn.
Brecht jetzt auf.
„Herr Professor“, sagte ich und ging zu ihm hinüber, „ich habe das starke Gefühl, dass Jonathan bald hier ist und dass das Ereignis, auf das wir alle warten, heranrückt. Wir müssen ihm unverzüglich entgegengehen.“
Wir machten uns beinahe sofort auf den Weg. Wir sehen wohl aus wie zwei zerlumpte Soldaten, überlegte ich. Wir waren gegen die bittere Kälte in Pelze gehüllt, unsere Kleidung war mit Schmutz und dem getrockneten Blut der Vampirfrauen verkrustet. Außerdem trugen wir Waffen, Dr. van Helsing seine Winchesterbüchse und ich meinen Revolver. Wir machten uns zu Fuß auf, folgten den Anweisungen, die mir Nicolae in die Gedanken schickte. Wir kamen nur sehr langsam voran, denn der Waldboden war mit Dickicht zugewachsen und zudem mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Außerdem fiel das Gelände steil ab.
Schon bald bot sich uns ein Anblick, der mich entsetzt zurückweichen ließ. Am Fuß eines Baumes lag der Leichnam einer jungen Frau. Ihr Blut hatte den sie umgebenden Schnee rot gefärbt. „Oh!“, entfuhr es mir. Sie war hübsch und dunkelhaarig und etwa in meinem Alter. Aus dem, was von ihrer Kleidung noch übrig war, schloss ich, dass sie eine Bäuerin war. Ihr Gesicht war völlig unkenntlich, ihre Gliedmaßen halb aufgefressen.
„Wölfe“, sagte Dr. van Helsing grimmig.
Wie aufs Stichwort hörte man aus der Ferne ein Heulen, das mir Angstschauer über den Rücken jagte. Ich verstand nun, warum Dracula gezögert hatte, sich mir in seiner Wolfsgestalt zu zeigen. Er war wirklich ein außerordentlich schönes Tier gewesen, und ich war voller Dankbarkeit, weil er am Tag zuvor unser Leben gerettet hatte. Doch trotzdem beunruhigte mich der Gedanke, dass jenes wilde Geschöpf, das ich gesehen hatte, der Mann war, den ich liebte. Und die Leiche dieser Unglückseligen erinnerte mich daran, dass seine Angriffe tödlich sein konnten.
Wir kamen zu der unbefestigten Straße und folgten ihr in östlicher Richtung. Kaum waren wir eine halbe Meile gegangen, als ich sehr müde wurde und mich auf einen Felsbrocken setzen musste. Ich hörte Nicolaes Stimme, die mich auf ein hohes Felsplateau hinwies, das oberhalb der Straße am Hang lag und wo wir den Elementen nicht so ausgesetzt wären. Er wollte, dass wir dort warteten und die Ereignisse verfolgten. Ich machte Dr. van Helsing vorsichtig diesen Vorschlag und vermittelte ihm den Eindruck, dass er selbst den Rastplatz ausgesucht hatte: eine Art natürliche Höhle mit einem torartigen Eingang zwischen zwei großen Felsbrocken.
„Sehen Sie!“, sagte der Professor, ergriff mich bei der Hand und zog mich in die Höhle. „Hier sind Sie vollkommen geschützt; und wenn die Wölfe kommen sollten, so können wir mit ihnen, einem nach dem anderen, abrechnen.“
„Wichtiger ist doch, dass es ein hervorragender Aussichts- punkt ist“, erwiderte ich und schaute auf das herrliche Tal, das sich unter uns erstreckte. „Wir können meilenweit sehen.“
Die Aussicht war atemberaubend. Die Straße unter uns schlängelte sich hin und her über die steilen, bewaldeten Hügel und überquerte dann ein gewundenes waldreiches Tal. Weit draußen wand sich der Fluss wie ein dunkles Band in Schleifen und Krümmungen. Dahinter ragten vor der untergehenden Sonne ringsum hohe Berge auf. Wenn ich mich umdrehte, konnte ich Draculas Burg auf dem Felsen sehen, die sich als scharfe Silhouette vor dem Himmel abzeichnete.
Versprich mir,
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