Dracula, my love
Grundschule hinausgekommen, hätte unsere Einrichtung nicht eine großzügige Spende erhalten. Damit schickte man mich auf ein Internat in den Außenbezirken Londons. Jonathan und ich begannen eifrig miteinander zu korrespondieren und sahen einander, sooft wir zufällig gleichzeitig seine Mutter im Waisenhaus besuchten. Leider ist sie im letzten Herbst verstorben. Als Jonathan und ich einander bei ihrem Begräbnis trafen, entdeckten wir, dass die Gefühle, die wir füreinander hegten, sich verändert hatten.“
Kurz wanderten meine Gedanken zu jenem Tag zurück, an dem Jonathan mich gebeten hatte, ihn zu heiraten. Es war drei Tage nach der Beerdigung seiner Mutter, und wir spazierten in London durch einen Park. Jonathan war unter einem großen Baum stehengeblieben und sagte: „Wilhelmina, nie habe ich ein Mädchen kennengelernt, das ich so sehr liebe wie dich. Ich glaube, wir sind füreinander bestimmt. Fühlst du das auch? Möchtest du meine Frau werden?“ Ich hatte glücklich und mit Freuden zugestimmt und ihn geküsst. Unser erster Kuss. Seither waren wir einander noch nähergekommen, denn nun planten wir eine gemeinsame Zukunft. Natürlich war zwischen uns stets alles sehr wohlanständig und züchtig zugegangen.
„Eine schöne Geschichte mit einem glücklichen Ende“, sagte Herr Wagner, „und doch schienen Sie zu zögern und wollten sie mir nicht mitteilen. Warum?“
„Ich habe Ihnen nicht alles erzählt.“ Ich holte tief Luft und fuhr fort: „Als kleines Mädchen pflegte ich oft von meinen Eltern zu träumen. Ich stellte mir vor, sie wären König und Königin eines fernen Landes, und als zukünftige Thronerbin hätte man mich zu meiner eigenen Sicherheit verstecken müssen. Ich wusste natürlich, dass es ein Märchen war, aber es machte mir Freude, es zumindest eine Weile zu glauben. Später überlegte ich mir, meine Eltern seien nur ein armes englisches Ehepaar gewesen, das es sich nicht leisten konnte, mich aufzuziehen, mich aber eines Tages holen kommen würde. Ich muss wohl kaum hinzufügen, dass nie jemand kam. Als ich acht Jahre alt war, belauschte ich einmal die Dienstbotinnen im Waisenhaus, die tratschten. Eine von ihnen sagte ...“ Ich hielt inne und spürte, wie mir die Schamröte ins Gesicht stieg. „Sie sagte, meine Mutter sei irgendwo als Hausmädchen in Stellung gewesen, schwanger geworden und aus dem Haus gejagt worden.“
„War das die Wahrheit?“
„Anscheinend. Den Namen meiner Mutter erwähnten sie nicht. Sie schienen auch nicht zu wissen, was aus ihr geworden war. Aber irgendwie wussten sie sehr gut Bescheid. Seit ich das erfahren habe, schäme ich mich so sehr.“
„Warum? Weil Ihre Mutter Sie außerehelich zur Welt gebracht hat?“
„Ja! Heranzuwachsen und zu wissen, dass die eigene Mutter in Schande verstoßen wurde, das hat mich mein Leben lang verfolgt.“
„Wahrhaftig, es ist traurig, ohne Eltern aufzuwachsen, und umso trauriger, sich der Umstände der eigenen Geburt schämen zu müssen. Aber, Fräulein Murray, eigentlich ist es keine so schreckliche Geschichte. Wir sind alle auf gewisse Weise Opfer vergangener Missgeschicke. Aber Ihr Unglück hat Sie nicht dauerhaft geschädigt. Sehen Sie sich doch an: Sie sind eine wunderschöne junge Frau, sind sehr gebildet und werden in nächster Zukunft heiraten.“
„Bitte halten Sie mich nicht für undankbar. Ich spreche täglich Dankgebete für all das Gute, das mir widerfahren ist.“
„Ich möchte Sie beruhigen. Sie hatten ja auf die Umstände Ihrer Geburt keinerlei Einfluss. Und ich denke, Sie haben die meisten anderen Menschen weit überflügelt. Eigentlich beneide ich Sie sogar.“
„Sie beneiden mich? Warum? Ich bin eine arme Waise mit kaum einem Pfennig in der Tasche, während Sie, Sir, wohlhabend sind, die Welt bereisen und alles haben, was sich ein Mensch nur wünschen kann.“
Bei meiner letzten Bemerkung schien sich seine Stirn zu umwölken. „Nein, Fräulein Murray, Sie haben alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann: die einzige wahre Quelle des Glücks auf dieser Welt.“
„Was ist das?“, fragte ich verwundert.
„Sie haben einen Menschen gefunden, mit dem Sie die restlichen Tage Ihres Lebens verbringen möchten.“ Er schaute auf, blickte mir fest in die Augen und fügte mit leiser, dunkler Stimme hinzu: „Ich suche einen solchen Menschen schon ... sehr lange.“
Ich vermochte unter seinem intensiven Blick kaum zu atmen. „Eines Tages werden Sie diesen Menschen finden“, brachte ich
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