Dracula, my love
ich es jede Nacht seit unserer Heirat getan hatte. „Jonathan“, murmelte ich leise, „es geht nun schon so lange. Ich weiß, dass ich versprochen habe, niemals zu fragen ...“
„Dann frage auch jetzt nicht“, erwiderte er mit rauer Stimme, schloss die Augen und wandte sich ab.
Ich lag bis in die frühen Morgenstunden wach und überlegte, welch seltsame Wendung unser Leben im Laufe des letzten Monats genommen hatte. Lucy, Frau Westenra und Herr Hawkins waren alle tot und begraben. Jonathan und ich waren verheiratet und lebten in unserem eigenen Heim. Mein Ehemann war nun Rechtsanwalt mit neu ererbtem Wohlstand und Herr über seine eigene Kanzlei. Und doch plagten ihn Nervenattacken und schreckliche Albträume. So viele tragische Entwicklungen, so viel Veränderung, und alles war so plötzlich über uns hereingebrochen, dass man es beinahe nicht glauben mochte.
Am nächsten Morgen ging Jonathan mit einer Entschlossenheit zur Arbeit, als sei er erleichtert darüber, sich durch die Verantwortung seiner neuen Aufgabe von all den schrecklichen Dingen abzulenken. Doch ich sorgte mich um ihn. Es war deutlich zu spüren, dass er nicht wohlauf war. Waren seine Albträume eine Warnung, dass sein Nervenfieber wieder aufflammen würde? Und wenn es so war, wie konnte ich ihm helfen, da er sich doch weigerte, mit mir darüber zu sprechen?
Erst da fiel mir ein, dass er am Morgen vor unserer Eheschließung gesagt hatte, mir stehe es frei, das Tagebuch zu lesen, das er während seines Aufenthaltes in Transsilvanien geführt hatte, solange ich nicht mit ihm darüber sprach.
Nun denn, beschloss ich, diese Zeit war nun gekommen.
Sobald sich die Haustür hinter ihm schloss, eilte ich in unser Schlafzimmer hinauf und verriegelte die Tür. Ich holte das Päckchen, das ich in Budapest mit Wachs versiegelt hatte, aus dem Schrank und wickelte es aus. Dann zog ich mir einen Stuhl ans Fenster, setzte mich mit Jonathans Reisetagebuch hin und begann zu lesen.
8
Zunächst kam ich nur langsam voran, denn ich hatte lange keine Kurzschrift mehr gelesen und war daher ein wenig aus der Übung gekommen. Doch schon bald konnte ich die Seiten wieder mit Leichtigkeit überfliegen. Nichts hätte mich jedoch auf deren schockierenden und furchterregenden Inhalt vorbereiten können.
Das Journal begann recht harmlos mit einem langen und in alle Einzelheiten gehenden Bericht über Jonathans Reiseerlebnisse in Österreich und Ungarn und mit einer idyllischen Beschreibung der Landschaft in Transsilvanien. Bei seiner Ankunft in seinem Hotel in Bistritz fand er ein sehr verbindliches Schreiben vor.
Mein Freund!
Willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie mit Ungeduld, für heute schlafen Sie erst einmal wohl. Um drei Uhr morgens geht die Postkutsche nach der Bukowina, ein Platz ist für Sie reserviert. Am Borgopass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir bringen. Ich hoffe, dass Sie von London bis hierher eine gute Reise hatten und dass Sie sich Ihres Aufenthalts in meiner schönen Heimat freuen mögen.
Ihr Freund Dracula
Jonathan war überrascht, als der Wirt des Hotels ihn davon abzubringen versuchte, die Reise fortzusetzen. Zu seiner weiteren Bestürzung kam dessen Ehefrau in hysterischem Zustand zu ihm, warf sich vor ihm auf die Knie und flehte ihn an, nicht weiterzufahren. Sie rief: „Wissen Sie wirklich nicht, wohin Sie gehen und was Sie erwartet?“
Als Jonathan darauf beharrte, er hätte geschäftliche Angelegenheiten auf der Burg Dracula zu erledigen und könne schlecht abreisen, ohne diese abzuschließen, trocknete die Frau ihre Tränen und legte ihm einen Rosenkranz und ein Kruzifix um den Hals und beschwor ihn, diese stets zu tragen, „um seiner Mutter willen“.
Jonathan hielt dieses Benehmen für außerordentlich seltsam, bis er am nächsten Morgen in die Postkutsche stieg und bemerkte, dass die Bauern des Ortes ihn voller Mitleid ansahen und immer wieder seltsame Worte murmelten, die übersetzt „Werwolf“ und „Vampir“ bedeuteten. Während die Kutsche ihn immer tiefer in die Berge der Karpaten trug, wurde Jonathan zunehmend unruhig. Seine Mitreisenden schauten ihn alle mit ängstlichen Blicken an und drängten ihm ohne ein Wort der Erklärung Kruzifixe und andere Zauber gegen den bösen Blick auf, zum Beispiel Knoblauch und Zweige der wilden Rose und Eberesche. Was für einen Mann würde er besuchen, fragte sich Jonathan, da alle solche Besorgnis um ihn zeigten?
Am späten Abend jenes Tages erwartete, wie versprochen, an
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