Dracula, my love
der Menschen, teilzunehmen an ihrem Leben, ihren Schicksalen, ihrem Sterben und an all dem, was eben London zu dem macht, was es ist.“
Jonathan hatte dann die Geschäfte erledigt, die ihn nach Transsilvanien geführt hatten. Er erläuterte in allen Einzelheiten, welchen Besitz seine Kanzlei im Namen von Graf Dracula erworben hatte: ein großes, altes, abgelegenes Herrenhaus mit dem Namen Carfax in einem Außenbezirk Londons, wo der Graf zu wohnen beabsichtigte. Nachdem alle Dokumente unterzeichnet und für die Post vorbereitet waren, überhäufte Dracula Jonathan mit Fragen über das Anwesen und über die Geschäftsgepflogenheiten und die Schifffahrt Englands. Im Verlauf der nächsten Abende führten die beiden Männer viele lange, freundschaftliche Gespräche über eine Vielzahl von Themen, die sie oft bis in die Morgenstunden wach hielten.
Obwohl der Graf charmant und ausgesucht höflich war, begann seine seltsame Lebensweise, die Nacht zum Tage zu machen, von Jonathan ihren Tribut zu fordern. Außerdem ließ ihn eine Reihe merkwürdiger Entdeckungen ein gewisses Unbehagen verspüren. Trotz des offensichtlich zur Schau gestellten Wohlstands konnte Jonathan keinerlei Anzeichen auch nur eines einzigen Bedienten in der Burg finden. Es schien, als hätte der Graf all seine Mahlzeiten, an denen er sich selbst übrigens niemals beteiligte, persönlich zubereitet. Inzwischen war sich Jonathan auch sicher, dass es der Graf selbst gewesen war, der in Verkleidung jene Kalesche kutschiert hatte, die ihn zur Burg gebracht hatte. Außer in der Bibliothek und in Jonathans Quartier waren die meisten Türen in der Burg verschlossen und ihm verboten. Graf Dracula hatte ihn gewarnt, er dürfte auf keinen Fall irgendwoanders in der Burg außer in seinem eigenen Zimmer einschlafen.
Während sich Jonathan eines Tages rasierte, fühlte er, wie eine Hand sich auf seine Schulter legte, und hörte des Grafen Stimme „Guten Morgen“ sagen. Jonathan stutzte verwirrt und überrascht, denn der Rasierspiegel zeigte kein Bild des Grafen Dracula, obwohl der unmittelbar hinter ihm stand! Ein Irrtum war ausgeschlossen. Der Graf hatte kein Spiegelbild! Jonathan zuckte so überrascht zusammen, dass er sich schnitt. Als der Graf das wahrnahm, stürzte er sich in einer Art dämonischer Wut auf ihn und zog sich erst zurück, als seine Hand die Perlen des Rosenkranzes berührte, an dem das Kruzifix um Jonathans Hals hing. Da legte sich die Erregung des Grafen so schnell, dass es Jonathan schien, sie wäre nie vorhanden gewesen.
„Nehmen Sie sich in Acht, dass Sie sich nicht schneiden“, sagte der Graf ruhig. „In diesem Lande ist das gefährlicher, als Sie glauben.“ Dann ergriff er Jonathans Toilettenspiegel. „Und dieses verfluchte Ding ist schuld daran. Es ist ein schlechtes Spielzeug menschlicher Eitelkeit. Fort damit!“ Er öffnete das große Fenster mit einer schnellen Bewegung und warf den Spiegel hinaus, der tief unten auf dem Pflaster des Burghofes in tausend Scherben zersprang.
Jonathan hätte gern gewusst, warum sich der Graf so merkwürdig verhielt. Nun begann er alles in Frage zu stellen. Warum aß und trank der Graf niemals in seiner Gegenwart? Wenn er wirklich der Kutscher gewesen war, welch seltsame Gewalt besaß er über die Pferde und die Wölfe? Warum hatten die Menschen in Bistritz und seine Reisegefährten in der Postkutsche eine so lebhafte Sorge um Jonathan gezeigt? Was bedeutete es, dass man ihm Kruzifixe, Knoblauch, wilde Rosen und Ebereschenzweige geschenkt hatte?
Wirkliche Angst ergriff Jonathan erst, als er nach einer kurzen Erkundung der Burg festgestellt hatte, dass alle Türen, die nach draußen führten, verschlossen und verriegelt waren. Es gab keinen Ausweg aus der Burg, nur durch die Fenster. Wurde er gefangen gehalten? Hegte Graf Dracula finstere Absichten? Oder ließ sich Jonathan nur von seiner eigenen Angst täuschen? Er beschloss, seine Befürchtungen für sich zu behalten, Augen und Ohren aufzusperren und sich auf eine schnellstmögliche Abreise vorzubereiten. Graf Dracula bestand jedoch darauf, dass Jonathan noch einen weiteren Monat in Transsilvanien bleiben solle, und drängte ihn, einen Brief nach Hause zu schreiben, der die Verzögerung erklärte. Jonathan, der das Gefühl hatte, seinem Arbeitgeber zuliebe dem Grafen entgegenkommen zu müssen, gab dieser Bitte zögernd nach.
Eines Nachts, als Jonathan zu einem Fenster der Burg hinausspähte, beobachtete er etwas, das ihn außerordentlich
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