Dracula, my love
zu verharren.
Jonathan zog die Stiefel aus und kletterte die raue Burgmauer hinunter - ein äußerst gefährliches Unterfangen - und gelangte wirklich bis ins Zimmer des Grafen. Zu seiner Überraschung enthielt das Zimmer nur staubbedeckte Möbel und einen großen Haufen Goldstücke, von denen keines weniger als dreihundert Jahre alt war. Jonathan stieg nun über eine dunkle Wendeltreppe in die Tiefe bis zu einem finsteren, tunnelartigen Gang. Der führte in eine verfallene Kapelle, wo er zu seinem Erstaunen etwa fünfzig lange Holzkisten entdeckte, die mit frischer Erde gefüllt waren. In einer dieser Kisten ... lag der Graf, anscheinend schlafend! Starr vor Entsetzen, hastete Jonathan fort.
In der Nacht des 29. Juni - dem Datum auf Jonathans letztem Brief - verkündete Dracula: „Morgen, mein Freund, werden wir uns trennen. Sie kehren in Ihr herrliches England zurück, mich aber erwartet eine Aufgabe, die so ausgehen kann, dass wir uns vielleicht nie wiedersehen. Ihr letzter Brief ist aufgegeben worden; morgen werde ich nicht hier sein, aber alles ist für Ihre Reise vorbereitet.“ Die Zigeuner, erklärte Dracula, hätten noch einige Arbeiten für ihn zu erledigen. Danach würden sie seine Kalesche vorbereiten und Jonathan zum Borgopass bringen, wo er in den Postwagen nach Bistritz umsteigen könnte.
Jonathan war misstrauisch und fragte, ob er nicht sogleich aufbrechen könnte, meinte, er würde gern sein Gepäck zurücklassen, falls man ihm gestatte, allein zu Fuß den Marsch anzutreten. Dracula äußerte seine Besorgnis, gab dann aber Jonathans Bitte statt und öffnete das Tor. Zu Jonathans großem Entsetzen hinderte ihn ein Rudel zähnefletschender Wölfe daran, sich auf den Weg zu machen. Als er später wieder sicher in seinem Zimmer eingeschlossen war, hörte Jonathan eine Stimme, in der er die des Grafen zu erkennen glaubte, wie sie den drei schrecklichen Frauen bedeutete: „Eure Zeit ist noch nicht gekommen. Wartet! Habt Geduld! Die morgige Nacht ist eure!“
Starr vor Schreck, beschloss Jonathan, entweder zu fliehen oder zu sterben. Am nächsten Morgen kletterte er die Burgmauer hinunter und ging wieder zu der alten Kapelle, wo er Dracula wie zuvor in der Kiste voller Erde schlafend fand. Diesmal erschien ihm der Graf viel jünger als zuvor! Sein Haar und sein Schnurrbart waren nicht mehr weiß, sondern eisengrau. Seine weiße Haut schien rosig unterlegt. Und Tropfen frischen Blutes standen auf seinen Lippen. Hatte er am Ende gerade das Kind der Frau verschlungen?
Entsetzt ergriff Jonathan eine Schaufel, um ihn damit zu töten. Doch der Graf wandte wie in Trance im letzten Augenblick den Kopf und sah ihn mit einem so hasserfüllten Blick an, dass der Schlag ohne große Wirkung blieb. Voller Angst, dass der Graf aufstehen und ihn ermorden würde, floh Jonathan aus der Kapelle. Er hörte die Zigeuner kommen, zweifellos, um den Grafen auf der ersten Etappe seiner Reise nach England zu begleiten. Um nichts auf der Welt, beschloss Jonathan, würde er mit jenen höllischen Schwestern allein in der Burg bleiben! Er würde versuchen, die Burgmauer tiefer hinunterzusteigen, als er es bisher getan hatte. Und er würde nichts mitnehmen außer den Kleidern am Leibe, seinem Tagebuch und einigen von Draculas Goldstücken. Noch heute würde er fliehen!
Er schrieb eine letzte, verzweifelte Zeile: „Lebt wohl, ihr alle! Mina!“
Damit endete das Journal.
Ich wusste nicht recht, was ich vom Tagebuch meines Gatten zu halten hatte. Der Bericht war so grauenhaft, dass ich völlig entsetzt war und in Tränen dasaß. Ich blätterte zurück und schaute mir bestimmte Abschnitte noch einmal an, in der Hoffnung, vielleicht einige Kurzschriftzeichen falsch gedeutet zu haben. Aber dem war nicht so. Oh! Wie mein armer, geliebter Mann gelitten haben musste! Kein Wunder, dass er bei seiner Ankunft im Krankenhaus von Budapest von Dämonen und Wölfen, von Geistern und Blut phantasiert hatte!
Entsprach dieser Bericht der Wahrheit, fragte ich mich, oder war er Jonathans wirrer Phantasie entsprungen? Hatte Jonathan alle diese Dinge erst geschrieben, nachdem ihn das Nervenfieber ergriffen hatte, oder waren sie erst der Grund dafür? Jonathan war - wie mir Herr Hawkins immer versichert hatte - der vernünftigste, ruhigste und klar denkendste Mensch, den er je kennengelernt hatte. Er neigte nicht zu wilden Phantasien ... Was den Inhalt seines Tagebuchs nur noch verwirrender und bestürzender erscheinen ließ.
Ich kehrte wieder zum
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