Dracula, my love
Wäre es möglich, dass er den Verstand verlor? Oder war das bereits geschehen?
Wenige Tage später, am 19. Mai, bat der Graf Jonathan in der höflichsten Weise, drei nachdatierte Briefe zu verfassen. In den ersten beiden stand, dass seine Arbeit hier nahezu getan sei und er in wenigen Tagen die Heimreise antreten würde. Im dritten teilte er mit, dass er die Burg bereits verlassen hätte und wohlbehalten in Bistritz angekommen sei.
„Die Post geht selten und unregelmäßig“, erklärte Graf Dracula glattzüngig, „und wenn Sie diese Briefe gleich jetzt schreiben, werden Ihre Freunde Ihre Nachrichten schneller erhalten.“
Jonathan schloss daraus, dass der Graf, der sich sorgte, dass er zu viele von seinen Geheimnissen kannte und seinen Plänen gefährlich werden könnte, ihn nur so lange am Leben lassen wollte, bis er von ihm alles über England gelernt hatte, ehe er selbst dorthin zog. Dann beabsichtigte er, ihn zu töten.
Die Briefe würden als Beweis dafür dienen, dass Jonathan wohlbehalten aus der Burg abgereist war. Dass der letzte Brief auf den 29. Juni datiert war, nahm Jonathan als ein Zeichen dafür, wie lange er noch zu leben hatte.
Er fühlte sich wie ein Kaninchen in der Falle und sann verzweifelt auf Flucht. Er schrieb zwei weitere geheime Briefe, die er durch das Gitter vor seinem Fenster einer Gruppe von Zigeunern anvertraute, die im Burghof unten ihr Lager bezogen hatten. Doch zu Jonathans Verzweiflung fing Dracula die Briefe ab und öffnete sie. Als er entdeckte, dass Jonathan eines der Schreiben an Herrn Hawkins gerichtet hatte, entschuldigte sich Dracula und drängte Jonathan, einen neuen Umschlag zu adressieren und den Brief darin zu versiegeln. Der zweite Brief war nicht unterschrieben und in Kurzschrift verfasst. Also verbrannte Dracula ihn.
Wochen vergingen. Jonathan blieb weiterhin gefangen. Er versteckte sein Tagebuch, doch viele seiner persönlichen Habseligkeiten verschwanden, einschließlich seines besten Reiseanzugs und all seiner Notizen und Papiere. Die Zigeuner kehrten zur Burg zurück und luden mehrere Wagen voller großer hölzerner Kisten ab. In den folgenden Tagen hörte Jonathan wie aus weiter Ferne die gedämpften Laute von Spaten und Hacke, als würde tief unten in der Burg die Erde aufgegraben.
Eines Nachts, es war schon spät, beobachtete Jonathan erneut, wie der Graf die Burgmauer hinunterkletterte. Dieses Mal trug er zu Jonathans Schrecken dessen fehlende Reisekleider und über die Schulter geworfen ein ähnliches Bündel, wie er es die gespenstischen Frauen hatte mitnehmen sehen. Über den mörderischen Zweck seines Ausflugs war kein Zweifel mehr möglich! Unverdrossen saß Jonathan lange am Fenster und wollte die Rückkehr des Grafen abwarten. Plötzlich schien ihm, als tanzten kleine Flecken im Mondlicht. Zu seinem Unbehagen bemerkte er, dass er hypnotisiert wurde! Wie durch Zauberkraft materialisierten sich die Staubteilchen zu den Gestalten der drei Frauen, die versucht hatten, ihn zu verführen. Schreiend rannte Jonathan davon und flüchtete sich in die Sicherheit seines Zimmers.
Wenige Stunden später hörte er etwas Entsetzliches aus dem Zimmer des Grafen, eine Art Wehgeschrei, das rasch unterdrückt wurde, dann Totenstille. Jonathan weinte voller Schmerzen um das Kind, das, wie er vermutete, entführt und ermordet worden war. Schon bald danach erschien unten im Burghof eine verzweifelte Frau, hämmerte mit den Händen an das Burgtor und schrie: „Du Ungeheuer, gib mir mein Kind!“
Von hoch oben, wahrscheinlich vom Turm, hörte Jonathan den Grafen mit harter, metallischer Stimme etwas rufen. Als Antwort ertönte von nah und fern ein Heulen. Kaum waren einige Minuten verstrichen, da kam ein Rudel Wölfe in den Burghof gestürzt. Die Frau schrie nicht, aber sie verschwand aus Jonathans Blickfeld wie vom Erdboden verschlungen.
Als der Morgen dämmerte, beschloss Jonathan, seine Ängste abzuschütteln und etwas zu unternehmen. Er war dem Grafen noch nie bei Tag begegnet. Vielleicht schlief er dann. Jonathan wusste, dass das Fenster weit unten - das Fenster, aus dem er den Grafen zweimal hatte wie eine Eidechse herauskriechen sehen - das Fenster zum verschlossenen Zimmer des Grafen war. Irgendwie musste er sich Zugang dazu verschaffen. Wenn ein alter Mann an dieser Burgmauer entlangklettern konnte, überlegte Jonathan, warum sollte er es ihm nicht nachtun? Besser sein Leben bei einem Fluchtversuch aufs Spiel zu setzen, als hilflos in der Gewalt des Grafen
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