Dracula, my love
säuberlich gekämmt. Große, buschige Brauen standen in einer breiten weißen Stirn. Er hatte ein gutes Gesicht, glatt rasiert mit einem breiten, energischen Mund und großen dunkelblauen Augen, in denen sowohl Mitgefühl wie auch Intelligenz zu lesen waren. Die Haltung seines Kopfes schien Gedankenfülle und kraftvolle Energie zugleich anzuzeigen.
„Frau Harker, wenn ich mich nicht irre?“, erkundigte er sich mit deutlichem niederländischem Akzent.
Ich nickte zustimmend, während mein Herz vor banger Erwartung pochte. „Und Sie sind Doktor van Helsing?“ Auf seine bejahende Kopfbewegung hin fügte ich hinzu: „Leider ist mein Gatte nicht in der Stadt, sonst hätte er Sie sicherlich gern kennengelernt, Herr Doktor.“
„Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, Frau Harker. Das heißt, falls Sie früher einmal Mina Murray waren und die Freundin der teuren Lucy Westenra.“
„Die bin ich. Mein Herr, ich hatte Lucy von ganzem Herzen gern. Eine bessere Empfehlung könnten Sie nicht haben, als dass Sie der Freund und Helfer Lucy Westenras waren.“ Ich hielt ihm die Hand hin. Er ergriff sie mit einer höflichen Verbeugung.
„Danke, aber trotzdem muss ich mich Ihnen vorstellen, Frau Mina, denn ich weiß, dass ich für Sie ein Fremder bin.“
Dies war das erste Mal, dass mich jemand mit „Frau Mina“ ansprach. Das war recht altmodisch, aber es gefiel mir. Sobald wir einander auf Stühlen gegenübersaßen, fuhr er fort: „Ich denke, Sie kennen Dr. John Seward, ja?“
Ich wusste, dass Dr. Seward in Lucy verliebt gewesen war und ihr einmal einen Heiratsantrag gemacht hatte. Aber da ich mir nicht sicher war, ob das allgemein bekannt war, antwortete ich nur: „Ich habe Dr. Seward nie kennengelernt, Sir. Doch ich weiß, dass er ein Freund Lucys war. Sie sprach sehr lobend von ihm.“
„Dr. Seward ist ein ausgezeichneter junger Mann und mit Hingabe Arzt. Vor einigen Jahren war er mein Student und ich sein Mentor. Seither sind wir gute Freunde geblieben. Ich bin Naturwissenschaftler und Metaphysiker. Mein Spezialgebiet ist das Gehirn, aber ebenso viel Erfahrung habe ich mit dem Studium geheimnisvoller Krankheiten gesammelt. Aus diesem Grunde bat mich Dr. Seward, zu ihm zu kommen und einen Blick auf Fräulein Lucy zu werfen.“
„Dann war sie krank?“, fragte ich, während große Trauer über mich kam.
„Ja, das war sie.“
„Ich hatte es befürchtet. Lucy war unwohl, als ich sie in Whitby verließ. Es war, als schwände sie ohne erkenntlichen Grund dahin. Kurze Zeit später schrieb sie mir jedoch, sie sei völlig wieder hergestellt und würde am nächsten Tag ins Haus ihrer Mutter in London zurückkehren. Die Nachricht von ihrem Tod kam für mich ganz überraschend und hat mich sehr erschreckt. Ist ihr vielleicht ein Unfall zugestoßen?“
„Nein. Ich fürchte, dass das, was Fräulein Lucy widerfahren ist, kein Unfall war“, erwiderte van Helsing grimmig.
„An welcher Krankheit hat sie gelitten, Dr. van Helsing? Warum musste sie sterben?“
„Ah! Darin liegt das große Geheimnis, Frau Mina. Genau diese Frage bringt mich zu Ihnen.“
„Zu mir?“
„Ja. Obwohl Fräulein Lucy in Hillingham House in London gestorben ist, hege ich den ernsthaften Verdacht, dass die Wurzel ihrer Krankheit in Whitby liegt. Wie ich in meinem Brief erwähnte, habe ich Ihre Briefe an Fräulein Lucy gelesen, weiß also, dass Sie mit ihr in Whitby waren. Wollen Sie mir helfen, Frau Mina? Wollen Sie mir erzählen, was Ihnen erinnerlich ist?“
„Wenn es in meiner Macht steht, Ihnen zu helfen, Herr Doktor, dann will ich es gern versuchen. Aber zunächst müssen Sie mir erzählen, was Lucy widerfahren ist.“
Er seufzte tief. „Die Ereignisse um Fräulein Lucys Tod sind kompliziert und höchst verstörend. Sind Sie sicher, dass Sie davon erfahren möchten?“
„Ganz bestimmt, Sir. Das war mein Wunsch, seit ich Ihr Telegramm erhielt. Ich finde nicht eher Ruhe, bis ich alles weiß.“
„Nun, dann in Kürze: In London verfiel Fräulein Lucy wieder in den Zustand, den Sie vorhin so treffend als ›dahinschwinden‹ bezeichneten. Dr. Seward kümmerte sich um sie. Höchst besorgt schrieb er mir nach Amsterdam und bat mich zu kommen. Also fuhr ich nach London, um ihm in diesem Fall beizustehen. Tagelang war Fräulein Lucy gespenstisch bleich und zeigte alle Anzeichen schweren Blutverlusts, doch gab es dafür keine medizinische Erklärung. Zudem hatte sie quälende Träume, derer sie sich aber beim Erwachen nicht mehr
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