Dracula - Stoker, B: Dracula
ganz recht, darauf zu bestehen, dass sie aus dieser entsetzlichen Geschichte herausgehalten wird, und ich muss standhaft sein, denn auf mir lastet diese Schweigepflicht besonders schwer. Ich darf unter keinen Umständen über diese Dinge mit ihr sprechen. Vielleicht wird das aber auch gar nicht so schwierig, denn Mina selbst ist zu diesem Thema äußerst zurückhaltend geworden und hat den Grafen und seine Untaten nicht einmal mehr erwähnt, seit wir unsere Entscheidung getroffen hatten.
2. Oktober, abends
Ein langer, ermüdender, aufregender Tag. Mit der ersten Post erhielt ich den von mir adressierten Umschlag, in dem ein schmutziger Zettel lag. Darauf stand, von einer ungefügen Hand mit einem Zimmermannsstift geschrieben:
»Sam Bloxam, Korkrans, 4, Poters Cort, Bartel Street, Walworth. Fragin Se nachm Vertreta.«
Ich erhielt den Brief im Bett und stand sofort auf, ohne Mina zu wecken. Sie sah müde, abgespannt und bleich aus, und es schien ihr alles andere als gutzugehen. Ich bat die Dienstboten also, sie nicht zu wecken, und beschloss, Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach Exeter zu treffen, sobald ich von Sam Bloxam |382| zurück wäre. Ich glaube, sie wird sich in unserem eigenen Heim und inmitten ihrer alltäglichen Verrichtungen glücklicher fühlen als hier unter uns. Im Haus traf ich einzig auf Dr. Seward, dem ich erzählte, wohin ich aufbrach. Ich versprach ihm, sobald ich Ergebnisse vorweisen könne, wieder zurückzukommen und alle zu informieren. Dann fuhr ich nach Walworth und fand nach einigen Schwierigkeiten Potter’s Court – Mr. Smollets Rechtschreibung hatte mich in die Irre geführt, denn ich fragte immer nach »Poters« statt nach »Potter’s Court«. Nachdem ich aber doch endlich Potter’s Court gefunden hatte, war es nicht mehr schwer, Corcoran’s Lodge zu entdecken. Ich fragte den Mann an der Tür nach dem »Vertreter«, er aber schüttelte den Kopf und sagte: »Kenn’ ich nich’. So einer wohnt hier nich’, hab mein Lebtag noch nich’ von dem gehört. Glaub auch nich’, dass es hier oder in der Nähe so einen gibt!« Ich zog Smollets Brief heraus, und als ich ihn ansah, wurde mir klar, dass nicht nur Quartier und Hausname falsch geschrieben sein mussten. Ich fragte den Mann also nach seiner Funktion in diesem Haus.
»Ich bin der Verwalter«, antwortete er. Augenblicklich war mir klar, dass ich auf der richtigen Spur war. Eine halbe Krone Trinkgeld, und alles, was der Verwalter wusste, stand zu meiner Verfügung. Ich erfuhr von ihm, dass Bloxam, der die Nachwirkungen seines gestrigen Bierabends tatsächlich im Corcoran’s Lodge hinweggeschlafen hatte, heute früh um fünf zu seiner Arbeit in Poplar aufgebrochen sei. Die genaue Anschrift dieser Arbeitsstelle konnte mir der Verwalter nicht mitteilen, aber er hatte in undeutlicher Erinnerung, dass es wohl ein »neumodisches Lagerhaus« wäre. Mit diesen mageren Hinweisen begab ich mich darauf nach Poplar. Es wurde zwölf Uhr, bis ich endlich einen hilfreichen Hinweis auf ein solches Gebäude bekam, und ich erhielt ihn in einem kleinen Café, wo einige Arbeiter beim Mittagessen saßen. Einer von ihnen erinnerte sich, dass an der Ecke der Cross Angel Street ein neues Kühlhaus errichtet worden war, und da diese Beschreibung einigermaßen dem entsprach, was |383| man sich auch unter einem »neumodischen Lagerhaus« vorstellen konnte, fuhr ich sofort dorthin. Eine Unterredung mit dem groben Aufseher und dem noch gröberen Vorarbeiter, die ich beide mit einer kleinen Münze freundlicher stimmen konnte, brachte mich dann auf Bloxams Spur. Ich versprach dem Vorarbeiter, ihm seinen Tageslohn zu zahlen, wenn er mir einige Worte mit Bloxam in einer Privatsache zu sprechen erlaubte, woraufhin er Bloxam herbeiholen ließ. Dieser war ein gewitzter Bursche, aber etwas ungehobelt in Ausdruck und Benehmen. Nachdem ich ihm versprochen hatte, für die Auskunft zu bezahlen, und diese Absicht durch einen Vorschuss bewiesen hatte, erzählte er mir, dass er zweimal von Carfax zu einem Hause in Piccadilly gefahren sei und dabei neun große, »verdammt schwere« Kisten transportiert habe. Pferd und Wagen hätte er eigens zu diesem Zweck gemietet gehabt. Ich fragte ihn nach der Nummer des Hauses in Piccadilly, und er erwiderte:
»Nun, Sir, die Nummer habe ich vergessen, aber es war nur ein paar Türen von einer großen, weißen Kirche entfernt, oder sowas Ähnlichem, jedenfalls etwas Neuem. Es war ein staubiges, altes Haus, aber noch lange nicht
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