Dracula - Stoker, B: Dracula
und tätschelte sie, wobei er sagte:
»Fragen Sie jetzt nicht weiter. Wenn wir erst gefrühstückt haben, werde ich alle Ihre Fragen beantworten.« Da er nicht mehr sagen wollte, verließen wir den Raum, um uns anzukleiden.
Nach dem Frühstück wiederholte Mina ihre Frage. Er sah sie eine Weile ernst an und sagte dann bekümmert:
»Weil, meine liebe Madame Mina, wir ihn nun mehr als jemals zuvor finden müssen, und ginge es bis zu den Pforten der Hölle!« Sie wurde wieder blasser und fragte zaghaft:
»Und weshalb?«
»Weil«, antwortete er feierlich, »er noch Jahrhunderte vor sich hat, Sie aber eine sterbliche Frau sind. Seit er Ihnen sein Mal auf den Hals gedrückt hat, müssen wir die Zeit fürchten.«
Ich war gerade noch rechtzeitig zur Stelle, um die ohnmächtig Zusammenbrechende aufzufangen.
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|457| VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Dr. Sewards phonographisches Tagebuch,
gesprochen von van Helsing
Dies für Jonathan Harker.
Sie werden bei Ihrer lieben Frau Mina bleiben. Wir werden allein auf die Suche gehen, wenn wir es denn überhaupt eine Suche nennen wollen, denn wir kennen ja bereits seine Absichten und wollen unsere Kenntnisse also nur vertiefen. Sie aber bleiben heute hier und kümmern sich ausschließlich um Ihre Frau, das ist jetzt Ihre wichtigste Aufgabe und heiligste Pflicht.
Er
wird heute nicht mehr hier auftauchen. Lassen Sie mich auch Ihnen sagen, was ich den drei anderen Herren bereits mitgeteilt habe: Er, unser Feind, ist fort. Er kehrt auf seine Burg in Transsilvanien zurück. Ich bin mir dessen so sicher, als hätte es eine große Hand in glühenden Lettern an die Wand geschrieben. Er muss bereits in irgendeiner Weise darauf vorbereitet gewesen sein, denn die letzte Erdkiste stand ja schon irgendwo zur Verschiffung bereit. Darum nahm er das Geld, darum auch seine Eile: Wir durften ihn nicht noch vor Sonnenuntergang einfangen. Es war seine letzte Hoffnung, außer vielleicht, er hätte daran gedacht, sich in der Gruft der armen Miss Lucy zu verstecken, die er ja noch für seinesgleichen hält. Doch dafür blieb ihm nicht mehr genügend Zeit, und so eilte er zu seinem letzten Zufluchtsort, seinem letzten ›Erden-Werk‹, um einmal ein Wortspiel zu gebrauchen. Er ist schlau, sehr schlau! Er weiß, dass sein Spiel hier verloren ist, und so kehrt er nach Hause zurück. Er fand ein Schiff, das dieselbe Route nimmt, auf der er gekommen ist, und er ging an Bord. Wir aber werden jetzt erforschen, um welches Schiff und welches Ziel es sich handelt. Wenn wir dies wissen, kommen wir zurück und informieren Sie. Das wird Ihnen und Madame Mina neue Hoffnung |458| geben, denn es besteht wirklich noch Hoffnung, wenn Sie es sich recht überlegen: Es ist noch nicht alles verloren! Diese Kreatur, die wir verfolgen, brauchte Hunderte von Jahren, um bis nach London zu gelangen, und doch haben wir nur einen einzigen Tag gebraucht, ihn zu vertreiben, da wir die Mittel dazu kannten. Auch er ist begrenzt, obgleich er so große Macht hat, Unheil zu stiften, und obwohl er nicht so leiden kann wie wir. Wir aber sind stark, jeder auf seine eigene Weise, und gemeinsam sind wir noch stärker. Fassen Sie also frischen Mut, verehrter Gatte der Madame Mina! Die Schlacht hat gerade erst begonnen, und am Ende werden wir siegen, dies ist so gewiss wie die Tatsache, dass ein Gott über allem thront und über seine Kinder wacht. Also seien Sie guten Mutes, bis wir zurückkehren.
van Helsing
Jonathan Harkers Tagebuch
4. Oktober
Als ich Mina auf dem Phonographen van Helsings Mitteilung vorspielte, wurde das arme Mädchen bedeutend froher. Schon die Gewissheit, dass der Graf das Land verlassen hat, gewährte ihr Trost, Trost aber bedeutet für sie Kraft. Jetzt, da wir der schrecklichen Gefahr nicht mehr Auge in Auge gegenüberstehen, fällt es mir bereits schwer, überhaupt an ihre Realität zu glauben. Sogar meine eigenen entsetzlichen Erlebnisse auf Burg Dracula kommen mir wie ein lange vergessener Traum vor, hier, in der frischen Herbstluft an einem hellen Sonnentag …
Aber nein, wie könnte ich zweifeln! Während ich meinen Gedanken nachhing, sah ich auf der weißen Stirn meines armen Lieblings die rote Narbe. Solange diese nicht verschwindet, sind Zweifel undenkbar. Und danach wird unsere Erinnerung den Glauben an die Wahrheit der Geschehnisse wachhalten. Mina und ich fürchten den Müßiggang, und so sind wir die alten Tagebücher |459| und Papiere immer wieder aufs Neue durchgegangen. Obwohl
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