Dracula - Stoker, B: Dracula
verhängnisvolle Bann des Ortes bereits auf sie gelegt habe, schließlich hatte sie ja schon die Bluttaufe des Vampirs empfangen. ›Nun‹, sagte ich zu mir selbst, ›wenn es so sein sollte, dass sie den ganzen Tag schläft, so muss ich es ihr eben gleichtun, damit ich die Nacht über munter bin.‹ Und so ließ ich auf dem Kutschbock meinen Kopf hängen und schlief ein, während die Pferde uns weiter die holprige, uralte Straße entlangzogen. Wieder war mein Erwachen plötzlich, und wieder war es mit einem unbestimmten Gefühl von Schuld verbunden. Es war viel Zeit vergangen. Madame Mina schlief noch immer, und die Sonne stand schon tief. Um uns herum aber war alles verändert: Die drohenden Berge schienen zurückgewichen zu sein, und wir |531| befanden uns nun nahe der Spitze eines steil ansteigenden Felsens, den eine Burg krönte, wie sie Jonathan in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Ich frohlockte und erschauderte zugleich, denn jetzt war das Ende nahe, ob gut oder schlimm. Nachdem ich problemlos Madame Mina aufgeweckt hatte, versuchte ich, sie zu hypnotisieren. Leider vergeblich, wie immer in letzter Zeit. Nach dem Sonnenuntergang herrschte noch eine Weile Zwielicht, das der noch immer gerötete Himmel gemeinsam mit seinem Widerschein auf dem frisch gefallenen Schnee erzeugte. Bevor die Dunkelheit hereinbrach, spannte ich die Pferde aus und fütterte sie an einer geschützten Stelle. Dann zündete ich wieder ein Feuer an, in dessen Nähe es sich Madame Mina, die nun vollkommen erwacht war und lieblicher aussah als je, inmitten ihrer Reisedecken bequem machte. Ich bereitete das Abendessen, aber sie wollte nichts zu sich nehmen, weil sie, wie sie sagte, keinen Hunger habe. Ich nötigte sie nicht, da ich wusste, dass es doch vergebens gewesen wäre. Aber ich selbst aß kräftig, schließlich muss ich mir in unser aller Interesse meine Kräfte erhalten. Besorgt über das, was sich ereignen könnte, zog ich danach auf dem Boden einen Ring um den Platz, wo Madame Mina saß – groß genug für uns beide. Auf den Ring streute ich zerbröselte Hostien aus, so fein und gleichmäßig, dass es einen zuverlässigen Schutz ergab. Sie saß die ganze Zeit über still, so still wie eine Tote. Dann wurde sie bleicher und bleicher, bis sie schließlich so weiß war wie der Schnee ringsum, aber sie sagte kein Wort. Als ich darauf zu ihr trat, klammerte sie sich fest an mich, und ich fühlte, wie das arme Geschöpf vom Kopf bis zu den Füßen zitterte und bebte. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, forderte ich sie auf:
»Würden Sie mit mir hinüber ans Feuer kommen?« Ich wollte nämlich erfahren, ob sie dazu imstande wäre. Sie erhob sich, aber nach nur einem Schritt blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen.
»Warum gehen Sie nicht weiter?«, fragte ich. Sie schüttelte den |532| Kopf und begab sich auf ihren Platz zurück, wo sie sich niederließ. Dann blickte sie mich mit weit offenen Augen an, als ob sie aus tiefem Schlaf erwacht wäre, und sagte leise:
»Ich kann es nicht!« Danach schwieg sie. Ich war jedoch zufrieden, denn ich wusste ja, dass das, was sie nicht konnte, auch keines von den Wesen vermochte, die wir fürchteten. Mochte ihrem Leib auch Gefahr drohen, ihre Seele war jetzt wenigstens in Sicherheit.
Bald darauf begannen die Pferde zu wiehern und an ihren Stricken zu zerren, und ich ging zu ihnen hinüber. Als sie meine Hände fühlten, schnaubten sie leise und freudig und wurden für eine Weile wieder ruhiger. Dies wiederholte sich noch mehrere Male, und immer gelang es mir, beruhigend auf sie einzuwirken. Schließlich brach die kälteste Stunde der Nacht an, die Zeit, in der alles Leben in der Natur zu erstarren scheint. Auch unser Feuer begann zu verglimmen, und ich ging, um neues Brennholz zu holen. Der Schnee fiel nun dichter, und mit ihm kam ein kalter Nebel. Selbst zu dieser Mitternachtsstunde war es nicht vollkommen finster, denn der Schnee schien für ein gewisses Licht zu sorgen. Plötzlich kam es mir so vor, als würden die durch Nebelschwaden hindurchwirbelnden Flocken sich zu Gestalten formen, zu Frauen mit wehenden Gewändern. Alles lag in tiefem, düsterem Schweigen, nur die Pferde wieherten und scheuten, als ob sie von Sinnen wären. Angst bemächtigte sich meiner, entsetzliche Angst. Ich eilte zurück in unseren schützenden Ring, und augenblicklich kam ein Gefühl der Sicherheit über mich. Nach einer Weile war ich davon überzeugt, dass mir meine Vorstellungskraft aufgrund der
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