Dracula - Stoker, B: Dracula
riss das Schaufelblatt den Deckel um, der auf die Kiste krachte und das scheußliche Wesen vor meinen Blicken verbarg. Das Letzte, was ich sah, war das aufgedunsene, blutunterlaufene Gesicht und ein starres, höhnisches Lächeln, welches selbst bei den Teufeln der untersten Hölle nicht seinesgleichen finden könnte.
Ich grübelte und grübelte, was ich nun tun sollte, aber mein |80| Gehirn brannte wie Feuer, und ich spürte, wie die Verzweiflung sich meiner bemächtigte. Wie ich so dastand, hörte ich aus der Ferne Zigeunergesang, der immer näher zu kommen schien, und durch den Gesang hindurch das Rollen schwerer Räder und das Knallen von Peitschen – die Slowaken und Szigany, von denen der Graf gesprochen hatte, kamen. Ich warf noch einen raschen Blick auf die Kiste, die den scheußlichen Leib barg, und rannte dann hinauf ins Zimmer des Grafen, entschlossen, hinauszuschlüpfen, sobald die Tür geöffnet werden würde. Angespannt horchte ich und vernahm von unten das kreischende Geräusch eines Schlüssels in einem großen Schloss und das Öffnen eines schweren Tores. Entweder hatten sie da draußen also den Schlüssel zu einer der verschlossenen Türen, oder es gab noch weitere Eingänge. Dann hörte ich das Geräusch vieler stampfender Schritte, die dröhnend in irgendeinem Durchgang verhallten. Ich beeilte mich, wieder hinunter ins Gewölbe zu kommen, wo ich den neuen Eingang finden musste, aber in diesem Augenblick kam ein gewaltiger Windstoß, und die Tür zur Wendeltreppe fiel mit einem furchtbaren Krach zu, sodass der Staub vom Türsturz flog. Als ich hineilte, um sie aufzudrücken, fand ich sie hoffnungslos fest verschlossen. Ich bin von Neuem gefangen, und das Netz des Verderbens zieht sich noch enger um mich zusammen.
Während ich dies schreibe, ist unten im Durchgang der Lärm stampfender Füße zu hören und das Poltern schwerer Lasten, offenbar setzt man die erdgefüllten Kisten um. Jetzt kommt ein Hämmern dazu, das wird die Kiste des Grafen sein, die zugenagelt wird. Nun dröhnen wieder die schweren Schritte durch die Halle, gefolgt von den leichteren der unbeschäftigten Mitläufer.
Das Tor wird geschlossen, die Ketten klirren, dann das Kreischen des Schlüssels im Schlüsselloch. Ich höre, wie er wieder herausgezogen wird, dann öffnet und schließt sich ein anderes Tor, wieder höre ich Schloss und Riegel knarren.
Horch! Im Hof und den Felsweg hinunter das Rollen schwerer |81| Räder, das Knallen von Peitschen und der Gesang der Szigany, der immer weiter in der Ferne verhallt …
Ich bin in der Burg allein mit den furchtbaren Frauen. Oh, was schreibe ich nur: Frauen! Mina ist doch auch eine Frau, aber sie hat nicht das Geringste mit diesen Weibern gemeinsam. Diese sind Teufel aus der Hölle!
Ich werde nicht hier bei ihnen bleiben, ich werde versuchen, die Burgmauer noch tiefer hinunterzuklettern, als ich es bisher getan habe. Und ich werde mir etwas von dem Gold mitnehmen, vielleicht kann ich es noch brauchen. Ich
muss
einen Ausweg aus diesem scheußlichen Gefängnis finden!
Und dann nach Hause! Fort mit dem nächsten, mit dem schnellsten Zug! Fort von diesem verruchten Ort, aus diesem verwünschten Land, wo der Teufel und seine Kreaturen auf Erden wandeln!
Der Abgrund ist steil und tief, aber besser Gottes Gnade ausgeliefert zu sein als diesen Monstren. Am Fuße des Abgrundes mag ein Mensch seine ewige Ruhe finden – als ein
Mensch
! Lebt wohl, ihr alle! Mina!
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|82| FÜNFTES KAPITEL
Brief von Miss Mina Murray
an Miss Lucy Westenra
9. Mai
Meine liebste Lucy,
vergib mir, dass ich so lange mit dem Briefeschreiben im Rückstand blieb, aber ich werde von der Arbeit fast erdrückt. Das Leben einer Hilfslehrerin ist oft sehr ermüdend. Ich wünsche mir sehr, bei Dir zu sein und an der See, wo wir frei wandern und unsere Luftschlösser bauen können. Ich habe in letzter Zeit sehr viel gearbeitet, weil ich mich gerne Jonathan bei seiner Tätigkeit nützlich machen möchte; das ist auch der Grund, warum ich so fleißig stenografieren lernte. Wenn wir verheiratet sind, werde ich Jonathan dann helfen, und wenn ich genügend stenografieren kann, bin ich imstande, sein Diktat aufzunehmen und dann auf der Schreibmaschine ins Reine zu schreiben, worin ich mich auch sehr eifrig übe. Er und ich, wir schreiben uns oft unsere Briefe im Stenogramm, und er führt ein stenografisches Tagebuch über seine Auslandsreisen. Wenn ich bei Dir bin, werde ich gleichfalls ein solches
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