Dracula - Stoker, B: Dracula
in dem angenehmen Bewusstsein niederlegen, dass alles geschehen ist, was geschehen konnte. Ich werde ihr genau Bericht erstatten, sobald sie wieder wohl ist. Sie wird Sie für das, was Sie für sie getan haben, umso mehr lieben. Adieu!«
Als Arthur gegangen war, ging ich wieder ins Zimmer hinauf. Lucy schlief sanft, und ihr Atem war kräftiger; ich konnte sehen, wie sich die Bettdecke über ihrer Brust bewegte. Neben dem Bett stand van Helsing und sah voller Interesse auf sie herab. Das Samtband bedeckte wieder die roten Wundmale. Flüsternd fragte ich den Professor:
»Was halten Sie von jenen Wunden dort an ihrer Kehle?«
»Was halten
Sie
davon?«
»Ich habe sie noch nicht genau gesehen«, erwiderte ich und lockerte das Band. Gerade über der äußeren Halsschlagader befanden sich zwei punktartige Verletzungen, nicht groß, aber sie sahen besorgniserregend aus. Die Ränder waren weiß und blutleer, wie von einer Quetschung. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass diese Wunde, oder was es sonst war, die Ursache ihres offenbar ungeheuren Blutverlustes sein könnte, aber ich verwarf die Idee sogleich wieder, denn das wäre schlicht unmöglich: Die Menge Blut, die das Mädchen verloren haben musste – anders war ihre furchtbare Blässe vor der Transfusion ja nicht zu erklären –, hätte die Laken ihres Bettes scharlachrot getränkt.
»Nun?«, fragte van Helsing.
»Nun«, erwiderte ich, »ich habe keine Erklärung dafür.« Der Professor stand auf. »Ich muss heute Nacht noch nach Amsterdam zurück«, sagte er, »denn ich habe dort Bücher und andere Dinge, die ich benötige. Sie aber müssen die ganze Nachtüber hier bleiben und dürfen sie keinen Augenblick aus den Augen lassen!«
|184| »Soll ich eine Pflegerin bestellen?«, fragte ich.
»Wir beide sind die besten denkbaren Pfleger, Sie und ich. Halten Sie die ganze Nacht über Wache. Geben Sie acht, dass sie gut zu essen bekommt und dass sie nicht gestört wird. Sie dürfen heute Nacht keinesfalls einschlafen! Ruhen können wir beide später. Ich komme sobald wie möglich wieder zurück, dann beginnen wir.«
» Womit
beginnen wir?«, fragte ich. »Was in Gottes Namen haben Sie vor?«
»Man wird sehen!«, antwortete er im Hinausgehen. Einen Augenblick später streckte er jedoch noch einmal den Kopf zur Tür herein und flüsterte mit warnend erhobenem Zeigefinger:
»Denken Sie daran, Sie ist in Ihrer Verantwortung! Wenn Sie sie allein lassen und es geschieht ihr etwas, dann werden Sie nie wieder ruhig schlafen können!«
Dr. Sewards Tagebuch
(Fortsetzung)
8. September
Ich saß die ganze Nacht an Lucys Bett. Gegen Abend hatte das Opiat seine Wirkung verloren, und sie wachte von alleine auf. Sie sah unvergleichlich besser aus als vor der Operation. Auch war sie bei guter Laune und voll froher Lebhaftigkeit, wenngleich dies die Anzeichen ihrer vorangegangenen totalen Entkräftung nicht zu überdecken vermochte. Als ich Mrs. Westenra mitteilte, dass mir der Doktor den Auftrag gegeben habe, bei ihr zu wachen, lachte sie mich beinahe aus und verwies auf die gute Laune und die wiedergekehrte Kraft ihrer Tochter. Trotzdem blieb ich meinem Entschluss treu und traf Vorbereitungen für die lange Nachtwache. Nachdem ich ein Abendbrot eingenommen und das Zimmermädchen Lucy für die Nacht hergerichtet hatte, begab ich mich zu ihr aufs Zimmer und setzte mich neben ihr Bett. |185| Sie machte keine Einwendungen, sondern sah mich dankbar an, sooft mein Blick sie traf. Es verging eine lange Zeit, bis sie endlich müde zu werden schien, doch dann raffte sie sich plötzlich wieder auf und schüttelte den Schlaf ab. Dies wiederholte sich mehrere Male, mit immer kürzeren Pausen und mit immer größerer Anstrengung ihrerseits, je weiter die Zeit voranschritt. Sie schien förmlich auf der Flucht vor dem Einschlafen zu sein. Ich begann deshalb ein Gespräch:
»Wollen Sie denn nicht schlafen?«
»Nein, ich fürchte mich.«
»Sich vor dem Schlaf fürchten! Weshalb? Der Schlaf ist doch ein Segen, und wir alle brauchen ihn dringend.«
»Ja, aber nicht, wenn man an meiner Stelle ist, da ist der Schlaf ein Vorbote des Grauens!«
»Ein Vorbote des Grauens? Was in Gottes Namen meinen Sie denn damit?«
»Ich weiß es nicht, ach, ich weiß es nicht. Das ist ja gerade das Furchtbare. Diese schreckliche Schwäche ereilt mich immer dann, wenn ich schlafe, und nun fürchte ich mich schon, überhaupt an Schlaf zu denken!«
»Aber aber, liebste Lucy, heute Nacht können Sie
Weitere Kostenlose Bücher